Rezension über:

Rupert Klieber: jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848-1918, Wien: Böhlau 2010, 294 S., ISBN 978-3-205-78384-8, EUR 35,00
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Rezension von:
Julie Grimmeisen
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Julie Grimmeisen: Rezension von: Rupert Klieber: jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848-1918, Wien: Böhlau 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/16407.html


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Rupert Klieber: jüdische - christliche - muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848-1918

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Die Donaumonarchie war in der Zeitspanne von der Revolution 1848 bis zu ihrem Ende 1918 ein Vielvölkerstaat mit etwa 50 Millionen Einwohnern. Sie war ein Gebilde aus unterschiedlichsten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Milieus. Für letztere möchte Rupert Klieber einen Ein- und Überblick schaffen. Dabei stellt sich der katholische Kirchenhistoriker aus Wien zwei Herausforderungen, nämlich "über den Tellerrand der eigenen Fachdisziplin zu schauen" (9) sowie "eine Erweiterung der Perspektiven auf 'Lebensweltliche Analysen' für die 'Kirchen- bzw. Konfessionsgeschichte(n)'" (15) zu schaffen. Indem er die Kirchengeschichte um eine Sozial- und Alltagsgeschichte religiöser Milieus erweitert, erhofft sich Klieber eine Ergänzung des Etablierten, eine Herausforderung der vorhandenen Kategorisierungen, eine historische Stimme der "Kleinen Leute" (17) und schließlich größeren Respekt gegenüber fremden Konfessionen. (15-18). Über eine Darstellung des religiösen Alltagslebens der Reichsbewohner - Klieber bevorzugt die Bezeichnung "Lebenswelten" (11) - soll die Rolle der Religion neu betont werden.

Der Hauptteil der Studie gliedert sich in fünf Kapitel, gemäß den fünf großen Religionsgemeinschaften, und ist nicht nach ihrer Größe, sondern ihrem Alter geordnet: "Juden vor byzantinischen und orientalischen Christen, Katholiken, Muslimen und Evangelischen." (22) An jede dieser Gruppen stellt Klieber die Frage, "in welcher Intensität und in welchen Formen der Faktor 'Religion' das Leben der Bewohner der Habsburgermonarchie bestimmte". (20)

Die konfessionellen Lebenswelten der jüdischen Reichsbevölkerung zu erfassen ist nach Meinung des Autors eine besondere Herausforderung, da "die Palette der gelebten Möglichkeiten so auffällig breit gefächert" (25) war. Klieber nähert sich der Religionsfrage, indem er zunächst orthodoxe und chassidische Traditionen in West- und Ostungarn sowie in Galizien beschreibt. Diese religiösen Gruppen separierten sich gerade aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen räumlich und verweigerten jegliche Eingriffe der Moderne. (29, 38) Demgegenüber stellt er das Milieu des assimilierten Judentums, welches sich von seinen religiösen Wurzeln immer mehr abnabelte. (42) Trotz dieser gegensätzlichen Entwicklungen blieb dem Autor zufolge die Religion von Bedeutung "für die kollektive Selbstbestimmung der Juden" (59) - nicht zuletzt durch die Instanz der Großfamilie, in Form von karikativen Einrichtungen sowie der Alternative der zionistischen Bewegung. (53-62)

Auch die "ostkirchlichen Milieus an der Peripherie des Reiches" (65) lassen keinen einfachen Überblick zu. Klieber begegnet deren Vielfältigkeit mit einer Aufzählung der Untergruppen. Auffällig sind der niedere soziale Status dieser Glaubensgruppe sowie die Tradition von "abergläubischen Praktiken" (72), die der tiefen kirchlichen Verwurzelung nicht entgegen standen. Zusammenfassend hebt der Autor die Resistenz der konfessionellen Kräfte gegenüber nationalen Bewegungen hervor. (98)

In seinem ausführlichsten Kapitel behandelt Klieber die in vielen Teilen des Reiches unangefochtene "Mehrheitskonfession" (101) die römische Kirche. Vor allem in den agrarischen Lebenswelten ruhte der Katholizismus "auf festen Fundamenten volksreligiöser Mentalitäten und Praktiken" (105). Um regionale Unterschiede im religiösen Leben herauszufiltern, verweist der Autor auf die Zahlen zur kirchlichen Berufswahl (Männer und Frauen). Hierfür zeigt sich in der westlichen Reichshälfte mehr Engagement und somit eine höhere "religiös-kirchliche Grundstimmung" (128-131). Wieder benutzt Klieber beispielhaft den Klerus, um den Kampf der Kirche gegen den kulturellen Wandel zu verdeutlichen. Neben schulischen und sozialen Bemühungen wurde 1910 der "so genannte Antimodernisten-Eid" (142) für alle Amtsträger in Cisleithanien beschlossen. Trotz allem verfügte auch der Katholizismus nicht über die Kraft, das Reich entgegen den nationalen Spannungen zusammenzuhalten. (155)

Vergleichsweise kurz fällt der Abschnitt zur muslimischen Lebenswelt in Bosnien und Herzegowina (seit 1878 Protektorat Österreich-Ungarns) aus. Trotz einer "integrativen Religionspolitik" von Seiten der Donaumonarchie, wehrte sich die muslimische Bevölkerung bis hin zum offenen Widerstand und zur Massenemigration. (162) Der vorwiegend religiöse Schulunterricht (für Männer) verstärkte die "überkommenen, mündlich tradierten Werte" (164) eher, als dass er sie reformierte. Die Okkupation beschleunigte schließlich die Entwicklung einer "religiös definierten Nationalität" (168).

Auch die "Vielgestaltigkeit des mitteleuropäischen Protestantismus" (169) versucht Klieber durch Aufzählung zu meistern. Beginnend mit den Reformierten in Ungarn über die Lutheraner östlich der Leitha und die Siebenbürger Sachsen, sowie die Protestanten in den Alpen, in Böhmen und Mähren, Schlesien, Galizien und der Bukowina, endet die Reihung beim protestantischen Zuzug nach "Alt-Österreich". Allgemein werden die "basisdemokratischen kirchlichen Strukturen" (171) der Lebenswelten beschrieben, die vor allem einem elitären Kreis von Honoratioren zugute kamen. Weiterhin herausragend ist die protestantische Präsenz in der Politik, die unter anderem Ende des 19. Jahrhunderts in der Westhälfte zur "Los-von-Rom-Bewegung" (202) führte. Über politische Propaganda warb man um Übertritte. Der Protestantismus war durch seine Aktivitäten im Untersuchungszeitraum wesentlich präsenter geworden, konnte aber keine starken überregionalen kirchlichen Einrichtungen schaffen. Die Stärke der Vielgestaltigkeit lag in den etlichen traditionellen Milieugruppen. (207)

Abschließend verweist Klieber auf einige "vergleichbare Elemente" (209) der fünf Diskursfelder, wie die häusliche Rolle der Frau oder die Sinnstiftung für ein konsistentes Weltbild (209, 213); ein umfassender Vergleich fehlt allerdings. Stattdessen betont er die vielseitigen und positiven Auswirkungen des Faktors Religion im Alltagsleben. (217)

Der Blickwinkel des Autors wird von den fünf Konfessionsgruppen bestimmt und reicht selten über den Rand des religiösen Alltags hinaus. Dadurch entsteht die Tendenz zu einem einseitigen Bild. Auch die geringe eigene Archivarbeit und das Zurückgreifen auf bereits veröffentlichte Literatur (20), können die Frage nach der Notwendigkeit des Buches aufwerfen. Andererseits wagen nur wenige Forscher ein derart "größenwahnsinnig[es]" (19) Projekt einer umfassenden Zusammenstellung aller Religionsgruppen der Donaumonarchie. Das Buch ist demnach ein "wichtiges Korrektiv" (18) der institutionellen konfessionellen Selbstbezogenheit. Kliebers gewagte Veröffentlichung ist ein ausführlicheres Nachschlagewerk über die konfessionelle Pluralität der "katholische[n] Großmacht" (218), dessen Text durch zahlreiche Fotografien, Bilder und Karten ergänzt wird.

Julie Grimmeisen