Carole Reynaud Paligot (éd.): Tous les hommes sont-ils égaux? Histoire comparée des pensées raciales 1860-1930 (= Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris; Bd. 3), München: Oldenbourg 2009, 133 S., ISBN 978-3-486-59144-6, EUR 19,80
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Der vorliegende Band versammelt neun Beiträge eines Forschungskolloquiums des Deutschen Historischen Instituts Paris aus dem Jahre 2007. Den Anspruch der Publikation formuliert die Herausgeberin Carole Reynaud Paligot in ihrer Einleitung: Im Gegensatz zur intensiven britischen Forschung zum zeitgenössischen Rassediskurs gilt das Thema in der französischen Historiografie noch als Desiderat, blieb diese doch lange republikanischen Gründungsmythen verhaftet - etwa jenen vom antirassistischen Frankreich und der französischen Nation als Garantin der Menschenrechte.
Die Einschreibung der "Wissenschaften von der Rasse" in die republikanische Ideologie bleibt auch in diesem Band zentral. Die Konzeptualisierung des Rassedenkens als "pensées raciales" soll in ihrer Pluralisierung jedoch eine disziplinenübergreifende Betrachtung über Frankreich hinaus ermöglichen. Die interdisziplinäre und transnationale Perspektive begründet die Herausgeberin mit der zunehmenden Präsenz des Rassegedankens in der französischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, das zu einem neuen gesamtgesellschaftlichen Paradigma wurde. Reynaud Paligot zufolge erfuhren pensées raciales durch Serologie und Genetik ständige Reinterpretationen und diffundierten in andere Wissensgebiete jenseits der Naturwissenschaften wie das der Soziologie, Psychologie, Geschichte und Literatur. Zweitens besaß die anthropologie raciale mit ihrer Institutionalisierung in wissenschaftlichen Gesellschaften, Zeitschriften und Fachkongressen von Anfang an eine internationale Dimension, die auf die Verbindung von Wissenschaft und Politik, die Funktion für die Begründung der Nation sowie auf Spannungen und wechselseitige Einflüsse hin untersucht werden soll.
Als Zielsetzung des Bandes postuliert die Herausgeberin, die Vieldeutigkeit des Begriffs der "Rasse" in so differierenden Gesellschaften wie Deutschland, Brasilien, Kamerun, Frankreich, Japan, Madagaskar und dem Senegal aufzuzeigen. Dies bildet den Schwerpunkt vor allem des ersten Teils der Untersuchung, während im zweiten Teil dezidierter die "Wissenschaften von der Rasse" im Mittelpunkt stehen.
Die ersten vier Beiträge bemühen sich, die Bandbreite und Ambivalenzen von Rassekonzepten des Nicht-Westens widerzuspiegeln. Hervor stechen die Darlegungen von Armelle Enders, die den Mythos vom antirassistischen Brasilien aufgreift: Die Proklamierung der Republik 1889 stellte formal alle brasilianischen Bürger gleich. Indes unterblieben staatliche Maßnahmen zur Umsetzung des Gleichheitsanspruchs. Stattdessen trat in einer Kombination von Geografie, Ethnie und zugeschriebenem Entwicklungsstand in der Unterteilung des Landes eine offizielle Hierachisierung der Rassen: Ein von Indios geprägter Norden, ein von Schwarzen dominiertes Zentrum und einen 'weißen' Süden. Vor diesem Hintergrund sieht Enders das Werk Gilberto Freyres ("Casa Grande & Senzala", 1930) in all seiner Ambivalenz als kopernikanische Wende in seiner Antwort auf generationelle Fragen der Métissage an: Der Soziologe Freyre unterschied klar zwischen den genetischen Effekten der "Rasse" und den "sozialen" Einflüssen des kulturellen Erbes und Milieus. Einerseits stellte Freyre die 'agency' der schwarzen Bevölkerung und deren Beitrag für den kulturellen Fortschritt des Landes heraus, schrieb zugleich damit aber auch deren Position im Rassedenken fest. Zudem rehabilitierte er die portugiesischen Kolonisatoren, die im Gegensatz zur Praxis anderer Kolonialreiche, die die Kultur der Indigenen und Mestizen gesehen, zugelassen und gefördert hätten, ein Narrativ, dessen sich auch das Salazar-Regime in Portugal zur Begründung des fortbestehenden Kolonialreiches bediente, was einen eindrucksvollen Beleg für die 'Nachhaltigkeit' des Konzeptes darstellt. Den Beitrag der Kolonie Kamerun zur Konstruktion einer "identité raciale" im Deutschen Kaiserreich stellt Albert Gouaffo heraus und beobachtet einen Übergang vom 'wissenschaftlichen' Rassismus hin zu einem durch die Medien der Kolonialliteratur, der Kolonialpresse und durch Repräsentationen auf Kolonialausstellungen oder in Zoos vermittelten 'Populär-Rassismus' - eine These, die für die Kolonialgeschichtsschreibung wenig umstrittenen Rang einnehmen dürfte. Mamoudou Sy betrachtet die ideologisch-rassische Konstruktion des Ursprungsmythos in der marabuoutischen Gemeinschaft, die zu Ende des 18. Jahrhunderts prädominant wird, bevor Arnaud Nanta mit dem Blick auf (kolonial-)politische Implikationen der (physischen) Rassenanthropologie für Japan zwischen den 1880ern und 1945 die kleine tour d'horizon der pensée raciale im Nicht-Westen beschließt.
Die zweite Hälfte des Bandes konzentriert sich in vier Beiträgen stringenter auf Konzeptionen und Ausformungen der pensées raciales in Frankreich selbst und deren Rolle für die Konstituierung der Nation als "plébiscite de tous les jours".
Marc Schindler-Bondiguel fragt nach dem Zusammenhang zwischen indigenem Militäreinsatz und der Gewährung von Bürgerrechten. Kam der Blutzoll indigener Soldaten Madagaskars im Kampf für die französische 'Nation in Waffen' dem Anrecht auf die Verleihung von Bürgerrechten gleich? In einem hierarchisch-evolutionistischen Modell galt der schwarze Soldat zwar als geborener Krieger, gehörte aber zugleich einer 'primitiven' Rasse an. In der Matrix der Staatsbürgerschaft erfüllte er das Kriterium patriotischer Maskulinität, nicht aber das des rational handelnden Individuums, weshalb ihm lediglich der Status eines "indigenen Helfers" zufiel. Er befand sich zwischen einer militärisch-utilitaristischen Logik der Assimilation in der Armee als 'Schule der Nation' einerseits und einer administrativ-juristischen Logik andererseits, die über den Blutzoll hinaus weitere Loyalitätsbeweise forderte. Virulent wurde die Frage der Verleihung von Staatsbürgerrechten an indigene Soldaten mit militärischen Ehrenabzeichen im Ersten Weltkrieg. Die französische Staatsbürgerschaft blieb ihnen weiterhin versagt, obwohl sie Ansprüche auf Sozialleistungen gegen den französischen Staat geltend machen konnten.
In einer doppelten Beziehungsgeschichte beschäftigt sich Céline Trautmann-Weiler mit den deutsch-französischen Debatten über den Ursprung der Sprachen und dem Bezug zum Konzept von Rasse in Philologie, Linguistik und Ethnografie zwischen 1850 und 1890. Einen Fokus bildet die historisch-linguistische Legitimation der Nation: Gobineaus aristokratisch-dynastisches Rasseprinzip der Sprache trat in der Dritten Republik hinter die Auffassung von einer Pluralität der Wurzeln der Sprache zurück. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 verlieh Interpretationen von Rasse abermals Dynamik, zählte Ernest Renan Sprache bekanntermaßen zu den Markern der Nationalität und argumentierte, dass niemand ein Territorium oder Volk unter einem linguistischen Vorwand gegen seine Willen annektieren dürfe. Auch in Agnès Graceffas Beitrag zu Debatten französischer und deutscher Historiker der Zwischenkriegszeit über die 'germanische' Bevölkerung Galliens zwischen 1920 und 1930 treten die Parallelen zu den Konjunkturen des deutsch-französischen Verhältnisses besonders klar hervor.
In seinem Beitrag über Professionalisierungsstrategien der Medizin führt Benoît Labriou schließlich die beiden Stränge der disziplinen- und grenzüberschreitenden Betrachtung der pensées raciales nochmals zusammen. Während er das Konzept der Rasse bis in die 1930er eher diffus und allein in der École d'anthropologie und im Umfeld der Sozialhygieniker genutzt sieht, hebt er die ab 1930 deutlich markantere "Biokratie" durch "Rassen-Prophylaxe" (115) und gesetzgeberisch tätige Mediziner hervor. Im Rahmen der Professionalisierung diente "Rasse" der Abschließung des Berufsstandes, der Abwehr von Eingriffen in die Behandlungsautonomie und dem Bestandsschutz einer wohlhabenden Klientel. In der Auseinandersetzung mit der Arbeiterklasse wurde der Begriff der Rasse sozial neu kodiert. Als Protagonisten der Rassedebatten standen sich René Martial, der Mediziner und Hygieniker innerhalb Frankreichs mobilisierte, und George Montandon gegenüber, der seine Bewegung aus dem internationalen Netzwerk der Ethnologen und Anthropologen speiste und zu einer "lutte des sangs" aufrief mit der Vorstellung, dass sich Einwanderung als "Transfusion" nur nach den Regeln der Serologie abspielen dürfe. Dass Montandon ab 1943 dem Institut d'étude des questions juives et ethno-raciales vorstehen sollte, das 1941 auf Veranlassung von Theodor Dannecker, Leiter des Judenreferats in Paris, gegründet wurde, zeigt einmal mehr die subtilen Querverbindungen auf, die dieser Tagungsband in all ihrer Ambivalenz auf so anregende Weise zusammengestellt hat.
Verena Steller