Gabriele Beßler: Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2009, 251 S., ISBN 978-3-496-01402-7, EUR 39,00
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Eine ganze Reihe wichtiger Arbeiten zum Thema "Kunst- und Wunderkammer" sind allein im Jahr 2009 erschienen: "Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates" (Marx/Rehberg, 2009); "Von der Kunstkammer zum Neuen Museum" (Ulferts/Föhl, 2009); "Sammeln als Strategie" (Bußmann 2009) oder die Monografie von Barbara Mundt zu dem berühmten Pommerschen Kunstschrank (2009). Das Buch "Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart" von Gabriele Beßler jedoch ist anders. Auf den ersten Blick erscheint es als eine Art Ausstellungsdokumentation; die Autorin geht mit dem Stuttgarter Projekt "KunstRaum Wunderkammer", der Frage nach, wie eine Sammlung, mehr aber ihr Sammlungsraum 'Wunderkammer' als mikrokosmisches Weltmodell, als Wahrnehmungsphänomen zu verstehen ist. Gabriele Beßler wagt dabei einen ungewöhnlichen Ansatz: Sie zeigt mit dem Blick aus der Perspektive aktueller Kunstströmungen, dass es zwischen den historischen Wunderkammern und den musealen Inszenierungen des 20. und 21. Jahrhunderts Parallelen gibt.
In ihrem ersten Kapitel "Raumfindung Wunderkammer" erörtert die Autorin die historischen Verhältnisse dieser Sammlungen in ihrer "räumlichen Verstetigung" (15-25). Folgerichtig, und unserem heutigen Verständnis noch durchaus geläufig, geht sie dabei auf die "wissenschaftliche Rezeption und Rekonstruktion [der Wunderkammern] im 20. und 21. Jahrhundert" (17-19) ein. Angefangen von Julius von Schlosser bis zur jüngsten Arbeit Horst Bredekamps (Wunderkammer des Wissens, 2000/2001) leitet sie den heutigen Wunderkammergedanken aus den früheren Forschungen her. Sie erkennt vergleichbare räumliche Strukturen dieser Weltmodelle und erklärt in ihrem Kapitel "vom perspektivischen Sehen zum Raum" (19-21) Zusammenhänge zwischen perspektivischer Bildwahrnehmung und Raumauffassung - Voraussetzungen für den Anlass dieses Buches. Aus dem Verständnis historischer Wunderkammern als "Weltmodelle" (22) vergleicht sie nun zeitgenössische Raumentwürfe (21-25) wie die Stuttgarter Installation "Hinter dem Spiegel" (2005).
Die Wunderkammer als Bühnenraum (30-37) zur Inszenierung irgendwie gearteter Weltmodelle erklärt Beßler am Beispiel des Korallenkabinetts der Wunderkammer Erzherzogs Ferdinand II. in Ambras, dem sie den modernen Kleinkosmos "Unicorn" Joseph Cornells aus dem Jahr 1960 gegenüberstellt. Sie erkennt beide "Welt-Bilder" als "gleichermaßen rückwärtsgewandte wie sehnsuchtsvolle Vitalisierungen abermals überwucherter Sedimente und vergessener Bildräume: Hier nimmt das Unsagbare für einen Augenblick wieder Gestalt an" (37).
In ihrem "Rückblick" (40-137) erklärt die Autorin in chronologischer Reihenfolge Raumkonzepte in ihren verschiedenen Ausrichtungen: "Der Raum als Vision" (40-57) mit dem schönen Beispiel des Studiolo Herzog Fridericos III. von Montefeltro in Urbino; "Zellen" im 16. Jahrhundert (58-71); "Verdichtungen im deutschsprachigen Raum (Anfang 16. Jahrhundert) " (72-87), in dem die herzogliche Münchener Kunstkammer als früheste Sammlung nördlich der Alpen nach ihrem Inventar und ihrer räumlichen Gestalt dargestellt wird (81-87); "Die Welt in der Kammer" und die durch das Korallenrelief zuvor schon genannte Kunstkammer Ferdinand II. (89-103), sowie die Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. als Hort verborgenen Wissens (104-106), gefolgt von einer kurzen Beschreibung der höfischen Wunderkammern von Stuttgart, Gottorf und Bevern; "Die Vision im Raum (17. Jahrhundert) "und die Aktivitäten des bekannten Augsburger Kaufmanns Philipp Hainhofers sowie die Herstellung seines berühmten Kunstschrankes für den Pommerschen Herzog Philipp II. (117-120).
Im Kapitel "Perspektivwechsel" (138-155) beschreibt Beßler die geschichtliche Entwicklung eben dieser Ausrichtungen von Wunderkammern, angefangen von enzyklopädischen Sammlungen vom Schlage des Kirchberger Kabinetts, das sich noch heute in Besitz der Grafen von Hohenlohe-Oehringen befindet, bis hin zu den künstlerisch inszenierten "Räumlichen Weltbildern" eines Marcel Duchamp oder Joseph Cornell im 20./21. Jahrhundert.
Den zweiten Teil "Spiegelblicke - "Kunstraum Wunderkammer" in Stuttgart (21. Jahrhundert)" (156-201) bildet das an den voran gegangenen Oberbegriffen synchronisierte "Gegenstück" der Gegenwartskunst. "Historie und Moderne werden so mittels des (räumlichen) Wahrnehmens gleichsam kurzgeschlossen" (Vorwort). Es bildet zugleich das Konzept der gleichnamigen Stuttgarter Ausstellung. So stellen zum Beispiel Eberhard Weible, Thorsten Hallscheidt, Daniela Ehemann und Studierende der Kunstakademie Stuttgart ihre Arbeiten zum ersten Abschnitt aus: "Der Raum als Vision II" (156-170).
Als Spiegel zu dem eingangs bearbeiteten Thema "Bühnenraum Wunderkammer" folgt nun die zeitgenössische Variante von "Multiple Choice", einer Künstlerkooperation um den Stuttgarter Choreografen Fabian Chyle mit der Bezeichnung "Unica revisted", die den Bühnenraum mit einer Mischung aus Performance, Tanz, "Neuen Medien", und Bildender Kunst anlässlich der Stuttgarter Kulturnacht 2005 multimedial inszenierten (204-205).
Eine Chronologie der Veranstaltungen des "KunstRaum Wunderkammer" findet sich im Anschluss ebenso wie das Verzeichnis der beteiligten Künstler (209-212).
Zum historischen Teil enthält das Buch auf den folgenden Seiten (213-229) eine umfangreiche Auswahl verlorener und rekonstruierter Wunderkammern.
Wer nach allem "Wunderkammern" allein in ihrer räumlichen Modellhaftigkeit einer irgendwie deutbaren oder gedeuteten Welt versteht, übersieht dabei leicht die Bedeutung ihres Inhalts, um dessentwillen sie geschaffen wurden: der Sammlung, des Schatzes selbst. Denn, nicht nur historisch-antiquarisch, ästhetisch oder mit ihrem Bildungspotenzial antizipiert, fungierten solche Sammlungen bekanntlich vielmehr schlicht als magisch-numinose Anhäufungen materieller Werte, galten als Dokument ideologischer oder politischer Machtansprüche und waren oft Ergebnis eines innerhöfischen Repräsentationswettbewerbs.
Und auch die Unvollständigkeit der Auswahl rekonstruierter Wunderkammern (es fehlen so wichtige Sammlungen wie zum Beispiel die des schwedisch-pommerschen Generalgouverneurs Axel Graf Löwen), die fehlende Berücksichtigung jüngerer Forschungen (Müller "Das Schloss als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reiches (1470-1618)" (2004); Mundt "Der Pommersche Kunstschrank des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für den gelehrten Herzog Philipp II. von Pommern" (2009) oder Projekte wie Kulturtransfer an Deutschen Fürstenhöfen (Greifswald, Tagung, 14./15. März 2008) stören den insgesamt positiven Eindruck dieses überaus ideenreichen Buches nicht. Denn mit einem überraschend kreativen, "künstlerischen Blick der Gegenwart" ist der Autorin eine "Wiederannäherung" (149) an das Phänomen "Wunderkammer" in jeder Hinsicht gelungen.
Burkhard Kunkel