Rachel Teukolsky: The Literate Eye. Victorian Art Writing and Modernist Aesthetics, Oxford: Oxford University Press 2009, X + 316 S., ISBN 978-0-19-538137-5, USD 35,00
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Anstatt die formalen Qualitäten von Werken der hohen Kunst und Literatur zu analysieren, konzentriert sich Rachel Teukolskys The Literate Eye auf die Kulturgeschichte der ästhetischen Beurteilung. Teukolsky verdeutlicht in dieser ausgearbeiteten Version ihrer Dissertation in Anglistik, wie die viktorianische Kunstkritik von besonders ausdrucksstarken Autoritäten bildreich formuliert wurde. Deutlich wird in den Kontroversen britischer Kunst von 1840 bis 1910, dass die ästhetische Theorie immer mehr zur Abstraktion und Anti-Figuration tendiert und sich somit gegen narrative und linguistische Stilmittel wendet. Der Titel "literate eye" bezieht sich einerseits auf den viktorianischen Einsatz in und für eine ästhetische Lehre, andererseits aber auch auf die nun mehr bejahte subjektive Erfahrung mit Kunst. Im neunzehnten Jahrhundert wird ein bis dato neues Verständnis der Kunstbetrachtung entwickelt: Die Formulierung der persönlichen Erfahrung in der Kunstbetrachtung wird als bedeutungsvoll erachtet.
Teukolsky zieht zu ihrer Argumentation neben schriftlichen Quellen der ästhetischen Kritik ausgesuchte Beispiele der visuellen Kunst in Betracht. Darüber hinaus stellt sie aber auch eine Auswahl an Praktiken und Institutionen vor, die ihrerseits den kritischen Diskurs im viktorianischen Zeitalter prägten und in die "lange Moderne" des neunzehnten Jahrhunderts einführen. Es soll im Gegensatz zur bisherigen Forschungsmeinung aufgezeigt werden, dass Autoren und Schriftsteller der viktorianischen Epoche ihren Teil zur Entwicklung der modernen angloamerikanischen Ästhetik beigetragen haben. Dies geschieht insbesondere in Hinsicht auf die Zuwendung zum Formalismus und der Abstraktion, die den Kanon der Werte in der Kunst schließlich im zwanzigsten Jahrhundert dominierten.
Im ersten Kapitel werden die 1830er- und 1840er-Jahre als Schlüsselerlebnis der ästhetischen Debatte herausgearbeitet. Dabei liegt der Fokus auf den ersten Bänden von John Ruskins Modern Painters, die als Plattform und Ausgangslage der Neukonzeptualisierung der frühen viktorianischen Ästhetik-Auseinandersetzung ausreichend dargestellt werden. Während die frühe viktorianische Sehkultur einer heterogenen Emulsion gleich Elemente der naturwissenschaftlichen Aufklärung sowie der romantischen Sinnlichkeit miteinander vermengt, deutet sich folgerichtig in Ruskins Schriften die Konzentration der Moderne auf die reine Form bereits an. Ebenso formuliert Ruskin in seinen Schriften und wie Teukolsky beweist auch durch seine eigenen ausschweifenden, malerischen Formulierungen eines unbedingten Sinneseindrucks eine Subjektivitätstheorie basierend auf persönlicher Wahrnehmung und Erfahrung im Sinne der Erkenntnistheorie.
Das zweite Kapitel widmet sich der gesteigerten Anzahl von Kritiken und Äußerungen, die rund um die Great Exhibition von 1851 in allen Schichten und Wissensständen formuliert wurden. Der unterschiedlich gelagerte Fokus der Berichterstattung bei Amateuren und Kunstkritikern wird deutlich und auf Grund des dargelegten geschichtlichen Kontextes sehr gut nachvollziehbar. Teukolsky stellt die professionellen Berichterstatter als erste Vorläufer der Formalisten vor, da sich ihre Kommentare auf rein objektive, formale Elemente berufen.
Den Aufstieg einer selbstbewussten Avantgarde im späten neunzehnten Jahrhunderts mit der zeitgenössischen Gebrauchsästhetik in Verbindung zu bringen ist Ziel des dritten Kapitels. Walter Pater bildet als der bekannteste ästhetische Theoretiker die Galionsfigur der Argumentationskette, offenbaren seine Schriften doch den Höhepunkt der Konzentration auf die pure Form, wie sie im Aesthetic Movement postuliert wird. Leider wird an dieser Stelle versäumt, eine tiefer gehende Auseinandersetzung besonders mit den diesbezüglich bahnbrechenden Ideen der Preraphaelite Brotherhood sowohl der ersten als auch der zweiten Generation anzustreben.
Im vierten Kapitel analysiert Teukolsky die Ästhetisierung biologischer Formen und Versatzstücke des Arts and Crafts Movement der 1880er und 1890er-Jahre. Teukolsky untersucht dabei auch die abstrakten und formalistischen Ansprüche an die Kunst, die am fin de siècle mit politischen Ideen sowie den Forderungen zu einer Rückbesinnung auf das Kunstgewerbe verknüpft werden und durch die inhärente Ästhetik der biologischen Muster anscheinend natürliche Wurzeln erhalten. Allerdings wird von Teukolsky vernachlässigt, dass eben dieses Ideengut und die Forderung auf eine Rückbesinnung zur Manufaktur letztlich bereits in Ruskins Schriften deutlich hervortreten. [1]
Das letzte Kapitel wendet sich mit der Post-Impressionistischen Ausstellung der Grafton Gallery 1910 dem wichtigen Punkt in der Geschichte der Ästhetik zu, als einflussreiche Kritiker ihre kunstphilosophischen Schriften über einen modernen Primitivismus benutzten, um ethnologische Objekte zur hohen Kunst zu erklären. Die prismatische Komplexität der Theorien von Kritikern wie Roger Fry und Clive Bell, die ihren Diskurs über die Beziehung zwischen formalistischen Prinzipien des Primitivismus mittels zeitgenössischen anthropologischen Tendenzen verteidigen, soll im Lichte der viktorianischen Kultur neu auferstehen. Teukolsky verweist auf die Kongruenz zu Clement Greenberg als Nachfolger von Fry und Bell und zeigt somit einen Vorläufer der Ideen des abstrakten Expressionismus der angloamerikanischen Kunst, entsprungen aus der Formalismusdebatte der viktorianischen Epoche. Eine Verbindung hin zum Kontinent und besonders Frankreich wird leider nicht vollzogen, dabei sollte dies zumindest im Bezug auf den Post-Impressionismus fruchtbar sein.
Teukolsky überspannt an einigen Stellen die Quellendiskussion und verliert ihr Hauptargument in der kleinteiligen Kapitelunterteilung aus den Augen. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit den Entwicklungssträngen der Präraffaeliten der ersten Stunde im Gegensatz zur zweiten Generation und den Unterschieden zum zeitgleich aufkeimenden Arts and Crafts Movement wären der Diskussion sicherlich zuträglich. Darüber hinaus negiert Teukolsky in ihrer Debatte Utopie per definitionem und die gesamte utopische Ideenforschung um eine politisch-revolutionäre Grundlage in den utopischen Schriften und Bestrebungen des Aesthetic Movements. [2]
Rachel Teukolskys The Literate Eye stellt nicht zuletzt durch einen umfangreichen Anmerkungsteil mit weiterführender Literatur eine Bereicherung für die Auseinandersetzung mit der Viktorianischen Epoche dar. Abseits von festgefahrenen Wegen und vorurteilsgetränkten Anekdoten greift sie mit interessanten Anregungen auf der Basis ausgewählter Schriften und Quellen in die Diskussion um britische Sehgewohnheiten und Subjektivität im ästhetischen Diskurs des neunzehnten Jahrhunderts ein.
Anmerkungen:
[1] Ein in diesem Zusammenhang besonders illuminierender Absatz findet sich bereits in seinem Werk The Stones of Venice, Vol.2 (1853). Dort heißt es in Kapitel 6 über "The Nature of the Gothic": "You must either make a tool of the creature, or a man oh him. You cannot make both." Zitiert nach: John Ruskin: On art and life (Penguin Books: Great Ideas; 15), London 2004, 14.
[2] Vgl. die Schriften Richard Saages. Z.B. Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991.
Beate Kampmann