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Claudia Wedepohl: In den glänzenden Reichen des ewigen Himmels. Cappella del Perdono und Tempietto delle Muse im Herzogpalast von Urbino (= Beiträge zur Kunstwissenschaft; Bd. 88), München: Scaneg 2009, 424 S., ISBN 978-3-89235-088-0, EUR 45,00
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Rezension von:
Till Busse
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Till Busse: Rezension von: Claudia Wedepohl: In den glänzenden Reichen des ewigen Himmels. Cappella del Perdono und Tempietto delle Muse im Herzogpalast von Urbino, München: Scaneg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/17515.html


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Claudia Wedepohl: In den glänzenden Reichen des ewigen Himmels

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Der Bau des Palazzo Ducale in Urbino wurde durch Fürst Federico da Montefeltro in der Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen. Der Florentiner Maso di Bartolomeo erweiterte schon bestehende Strukturen, u.a. um den Palazzetto della Jole. Der dalmatische Architekt Luciano Laurana entwarf ab den 1460er-Jahren die Fassade, den berühmten Innenhof und die große Treppe. Lauranas Innenhof mit seinen eleganten, weiträumigen Bogenstellungen folgt Florentiner Vorbildern Brunelleschis und gilt neben dem Hof der Cancelleria in Rom als einer der elegantesten Portiken der Renaissance. Durch die unregelmäßige Geländesituation entstand auch das Gebäude in einer eher asymmetrischen Gesamtanordnung und gilt in seinem Palaststadtcharakter dennoch als Modell einer fürstlichen Renaissanceresidenz. Der Nachfolger Lauranas wurde 1472 Francesco di Giorgio Martini, der die Fassade entwarf, u.a. mithilfe des Mailänder Bildhauers Ambrogio Barocci, der Portale und Fenster, aber auch Innenräume schmückte. Als Federico 1482 starb, blieb der Bau zum Teil unvollendet und wurde erst im frühen 16. Jahrhundert von Girolamo Genga weitergeführt.

Urbino ist berühmt als Bühne für die Gespräche von Baldassare Castigliones "Libro del Cortigiano", die hier im Jahr 1507 inszeniert werden. Der literarische Ruhm, den Castiglione dem Palast verschaffte, entspringt natürlich keinem Vakuum, sondern dem Habitus, den Federico da Montefeltro für sich und seine Regentschaft erschaffen hatte. Federicos berühmte Bibliothek, seine regen geistigen Interessen an Geschichte, antiker Philosophie und Musik äußern sich in der anspruchsvollen Ausstattung des Palastes. Berühmt ist das Studiolo, das mit Intarsien u.a. von Musikinstrumenten, aber auch mit Porträts historischer Persönlichkeiten als Tugendmodellen geschmückt ist.

Wesentlich weniger erforscht und immer noch ein wenig rätselhaft sind der Tempietto delle Muse und die Cappella del Perdono, die eventuell von Francesco di Giorgio Martini erschaffen wurden. Claudia Wedepohls Dissertation versucht, diese beiden nebeneinander liegenden und in Analogie zueinander errichteten Sakralräume in ihrer Baugeschichte, Ikonografie und geistigen Bedeutung zu erschließen. Die beiden nur indirekt beleuchteten Räume waren wohl Teil der Winterwohnung des Fürsten und wurden über eine Inschrift erklärt, die auf ihre Analogie zueinander verwies. Die wegen eines päpstlichen Ablasses so genannte Cappella del Perdono steht mit ihren luxuriösen Inkrustationen aus teuren Steinsorten in der Tradition eines "Early Christian Revival", das die Kunst der frühen Renaissance generell beeinflusste. Akribisch untersucht Wedepohl die Materialikonografie des Kapellchens, dessen Farben, beige und rot, implizit auf Fleisch und Blut Christi verweisen. Porphyr als imperial konnotiertes, hier auch als Imitat verwendetes Material, spiele somit auf das Blut Christi, aber auch auf einen fürstlichen Anspruch Federicos an. Wedepohl führt dazu eine reiche textliche Tradition, aber auch historisch dokumentierte Reliquien wie den porphyrnen Salbstein Christi an, auf den wohl in Mantegnas berühmte Beweinung Christi angespielt wird.

Nicht immer ganz nachvollziehbar sind Deutungen wie jene, dass die rot geäderten Marmorsorten unmittelbar auf die Wunden Christi bezogen werden können. Als generelle farbliche Anspielung ist dies aber sehr wohl verständlich. Wedepohl erklärt die weitgehend abstrakte Ornamentik in ihrer Farbigkeit und Materialwahl als Darstellung der Materialisierung des Logos, als zeichenhafte Abbildung der Humanitas Christi. Sie erklärt die Cappella del Perdono als begehbaren Reliquienschrein nach dem Vorbild französischer Modelle, aber auch nach dem Modell der Kapelle Karls IV. in Karlstein, die mit noch luxuriöserer Materialikonografie aufwartet. Gleichzeitig sieht sie diesen Sakralraum als Vorläufer für Römische Kapellen der Raphael-Nachfolge, die also nur eine Tradition des Quattrocento weiterführen. Weitere Analogien ergeben sich zu italienischen Heilig Grab-Darstellungen, etwa in San Pancrazio in Florenz. Die in die Apsis eingestellten Ecksäulen beispielsweise stehen laut Verfasserin oft in dem Totengedenken gewidmeten Räumen. Ein bislang ungeklärtes Rätsel ist das so gerahmte Fenster in der Apsis, überfangen von einer Art Triumphbogen oder Baldachin, das zwischen innen und außen vermittelt. Wedepohl vermutet, dass es Prozessionen diente, um im Gang vorbeiziehende Gläubige die dort aufbewahrten Reliquien sehen zu lassen. Um welche Reliquie es sich handelt, ist nicht dokumentiert, doch nimmt die Autorin einen Zusammenhang mit der Verehrung der Eucharistie und dem Fronleichnamsfest an, was auch die Materialität dieser Kapelle erklären würde.

Der sogenannte Tempietto delle Muse wartete im Gegensatz zur benachbarten Kapelle mit einer reichen Bebilderung auf, die heute in erster Linie in der Galleria Corsini in Florenz gezeigt wird. Vielleicht aus der Konkurrenz zu Sigismondo Malatestas Tempio in Rimini verschränkt auch Urbino heidnische und christliche Traditionen. Neben den verlorengegangenen "Spalliere" aus Holz zeigten die Wände die neun Musen, Apollo, Athene und eine nicht identifizierte Figur, von der Wedepohl vermutet, es handele sich um die "Poesia". Die von Giovanni Santi und Timoteo Viti geschaffenen Tafeln basieren z.T. auf den sogenannten Tarocchi del Mantegna, aber auch auf den Illustrationen in Lodovico Lazzarellis "De Gentilium Deorum Imaginibus", die laut Autorin auch inhaltlich eine der Hauptquellen des Musenzyklus sein dürften. In einem längeren Exkurs rollt Wedepohl die literarische und ikonografische Tradition der Musendarstellungen auf und verweist auf einige für den Auftraggeber wohl wesentliche Aspekte. So verleihen bei Hesiod die Musen dem Herrscher die Gabe des vernünftigen und gerechten Handelns. Vor allem jedoch stellt sie Bezüge zu Dante, Landino und Lazzarelli her. Neben dem Herrscherlob in Bezug auf vita activa und vita contemplativa verweist der Musenzyklus unter anderem auf Kosmologie und Musik und auf die - in der lira da braccio Apolls ausgedrückte - Reinheit der Dichtkunst. Nach Wedepohl wollte Federico in seinem Tempietto "[...] die Dichtung nicht nur dargestellt sehen, sondern sie sollte dort auch moralisiert und in einem letzten Schritt sogar sakralisiert werden". Durch die Analogie zur christlichen Kapelle nebenan - einem begehbaren Reliquienschrein - wird Bildung hier an einem heiligen Ort, eben einem Musenschrein, als alternativer oder ergänzender Weg zur Gotteserkenntnis gezeigt.

Wedepohl geht kaum auf eine ikonografische Paradoxie der Doppelkapelle ein: der christliche Kapellenraum kommt weitgehend ohne Bildwerke aus und arbeitet mit Materialikonografie, während der humanistische Musentempel figurativ arbeitet. Hier wäre es lohnenswert gewesen, grundsätzlich nach dem Verhältnis von Bild und Religion am Hof Federicos zu fragen. Eine weitere Fragestellung ergibt sich aus der Kombination von Musen, Apoll, Pallas Athene und Poesie. Da Wedepohl neben der offensichtlichen Autorenschaft Giovanni Santis auch Texte des Hofmalers heranzieht, hätte man nach dem Einfluss Giovanni Santis auf Raphaels spätere Verarbeitung des Themas in den Stanzen fragen können.

In ihrer abschließenden Deutung verweist Wedepohl auf das enge Verhältnis zwischen Federico und seinem Bruder Ottaviano Ubaldini, von dem der Humanist Campano sagt, während Federico sich um die Waffen kümmere, kümmere jener sich um die Musen. In diesem Schlusswort weist Wedepohl Ubaldini eine entscheidende Rolle bei der Konzeption der beiden Räume zu, führt jedoch nur sehr knappe Textbelege hierzu an. Hier wäre es sinnvoll gewesen, sich eingehender mit dieser Persönlichkeit zu befassen und ihren möglichen Einfluss auf die Genese, Stil und Ikonografie der beiden Räume umfassender zu erläutern.

Ausgerechnet in ihrer Schlussfolgerung wirft Wedepohl also entscheidende Fragen auf, die in einer weiteren Studie sicherlich zu klären wären. Trotzdem hat die Autorin eine faszinierende Studie vorgelegt, die, von einem eher kleinen kunsthistorischen Thema ausgehend, einen großen kulturhistorischen Bogen spannt. Wedepohl kann sicherlich nicht alle gestellten Fragen beantworten, doch entpuppen sich die beiden scheinbar schlichten Räume als unvermutet komplex und beginnen zu leuchten.

Till Busse