Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 303 S., ISBN 978-3-525-35893-1, EUR 39,90
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Selbstzeugnisse sind ein Lebensthema von Kaspar von Greyerz. Er hat zu diesem Forschungsfeld nicht nur eine Vielzahl von Aufsätzen vorgelegt, hat nicht nur seine Habilitationsschrift zum Thema "Vorsehungsglaube und Kosmologie. Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts" geschrieben [1], sondern zeichnet auch verantwortlich für eine eindrückliche, im Internet nutzbare Datenbank deutschsprachiger Selbstzeugnisse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. [2] Alle, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt mit Selbstzeugnissen beschäftigt haben, wissen um deren Reiz und die vielfältigen Möglichkeiten, historische Problemstellungen zu entwerfen. In seinem jüngsten Buch nutzt Greyerz dieses historische Material, um die Frage nach dem Modell der Lebensstufen zu stellen, das in der Frühen Neuzeit von großer Wirkkraft war. Greyerz gelingt es, gleich auf den ersten Seiten die Relevanz dieses Themas für das Leben der Menschen der Frühen Neuzeit vor Augen zu führen, indem er das Exempel des Ulmer Stadtbaumeisters und Architekturtheoretikers Joseph Furttenbach anführt, der im Jahr 1652, mit dem Erreichen seines 63. Lebensjahrs, die Aufzeichnungen seines Selbstzeugnisses zunächst beendete, weil er in Übereinstimmung mit dem vorherrschenden Lebensstufenmodell damit gerechnet hatte, dass nun seine Kräfte abnehmen und er zur Fortführung seiner Aufzeichnungen nicht mehr in der Lage sein würde. Nachdem Furttenbach feststellen durfte (oder musste), dass normative Modelle wohl nicht immer mit dem Lebensalltag korrespondierten, setzte er nach kurzer Unterbrechung seine Aufzeichnungen fort.
Das Beispiel Furttenbachs findet sich wohl nicht zufällig am Anfang des Buches: Es lässt den Zusammenhang von Lebensstufenmodell und Selbstzeugnissen besonders markant hervortreten - bleibt in dieser Deutlichkeit aber eher die Ausnahme. Frühneuzeitliche Lebensstufenmodelle basierten auf idealtypischen Einteilungen des Lebens in einzelne Abschnitte zu sieben oder auch zu zehn Jahren, die jeweils mit bestimmten Qualitäten oder auch Defiziten verbunden waren. In dem auf der Siebenzahl basierenden Schema, das Furttenbach offenbar vor Augen stand, sollte beispielsweise die letzte Lebensphase, die eben mit dem 63. Lebensjahr begann, durch einen umfassenden Verlust der Lebenskräfte geprägt sein. Leider führt Greyerz solche Belege für das direkte Einwirken des Lebensstufenmodells auf die Selbstzeugnisse eher selten an. Stattdessen verlegt er sich auf eine andere Vorgehensweise und konzentriert sich auf wissenschaftliche Lebensstufenmodelle, wie sie in der Soziologie beziehungsweise Ethnologie gewonnen wurden, um mit diesem Kategoriensystem sein Material zu untersuchen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass hier eine gewisse Gefahr der kategorialen Durchmischung besteht, der Greyerz auch nicht gänzlich entgeht: Einerseits sollen zwar die frühneuzeitlichen Lebensstufenmodelle thematisiert werden (dies wäre als kulturhistorische Frage nach der Wirkmächtigkeit bestimmter Denkschemata zu bezeichnen), andererseits macht der Aufbau des Buchs deutlich, dass es Greyerz vorrangig um die Gestaltung der Übergänge zwischen einzelnen Lebensphasen in der Frühen Neuzeit geht (dies wäre die eher sozialhistorische Frage nach der Bedeutung gesellschaftlicher Institutionalisierungen). Selbstverständlich kann man (und muss man wohl sogar) beide Aspekte des Problems miteinander verknüpfen, allerdings gelingt es der Darstellung nicht immer, hier analytisch scharf und für den Leser nachvollziehbar zu trennen.
Das belegt auch ein Blick auf die zentrale theoretische Referenz, nämlich auf Arnold van Genneps Schwellenriten (rites de marge). An eben diesem begrifflichen Instrumentarium lassen sich die Unklarheiten der Fragestellung aufzeigen. Denn einerseits stellt Greyerz fest, dass "dem Konzept der Siebenjahres-Lebensstufen unzweifelhaft [...] eine gewissermaßen existenzielle Dimension [eignete], die viele, möglicherweise sogar zahlreiche Personen des 16. und 17. Jahrhunderts bewegte". Zwei Sätze weiter merkt er dann jedoch an: "Die Repräsentationen von Siebenjahres-Lebensstufen lassen sich im Sinne des Ethnologen Arnold van Gennep als rites de marge, als Schwellenriten, bezeichnen" (12). Eben diese Überblendung funktioniert jedoch nicht. Greyerz setzt eine Form der Selbstbeschreibung der historischen Akteure (die Siebenjahres-Lebensstufen) mit einer analytischen Kategorie ethnologischer beziehungsweise historischer Forschung gleich - beide sind aber nicht identisch.
Dass die zweite, also die sozialwissenschaftliche Perspektive tatsächlich im Vordergrund steht, lässt das Inhaltsverzeichnis unschwer erkennen. Dort finden sich die wissenschaftlich etablierten Einteilungen in unterschiedliche Lebensphasen als ordnendes Prinzip wieder: In chronologischer Reihung werden Geburt und Taufe, Kindheit, Jugend, Gesellenzeit und Studium, Verlobung und Heirat, Ehe und Familie, Alter und Tod behandelt. Hinsichtlich dieser historischen Anthropologie des Lebensalltags in der Frühen Neuzeit auf der Basis von Selbstzeugnissen ist das Buch von Greyerz daher fraglos ein Gewinn. Wenn man auch über Lebensstufenmodelle eher wenig erfährt, über Lebensstufen in sozialhistorischer Perspektive wird man umfassend unterrichtet. Innerhalb der Kapitel wird weitgehend systematisch und sehr kenntnisreich auf einzelne Aspekte der jeweiligen Lebensphasen eingegangen. Um nur ein Beispiel anzuführen: Im Kapitel zur Kindheit werden (neben einer Diskussion der Forschungslage zur Geschichte der Kindheit) unter anderem das Stillen, der Kindsmord, die Kindersterblichkeit und die Trauer über verstorbene Kinder, die körperliche Züchtigung von Kindern, Formen des Spiels, unterschiedliche Arten des Schulunterrichts, Lesen und Schreiben, körperliche Züchtigung in der Schule oder soziale Unterschiede bei der Schulbildung behandelt. All dies sind für sich genommen etablierte Forschungsthemen der Frühneuzeitgeschichte, und sie orientieren sich stark an institutionellen Rahmenbedingungen. Aber auch hier wäre unter Umständen mehr möglich gewesen, denn neben Einleitung und Schluss bleibt das Konzept der Übergangsriten als Analyseinstrumentarium verhältnismäßig blass. Solche Übergänge (zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Jugend und Erwachsenenalter, zwischen Erwerbsleben und Alter etc.) werden eher vorausgesetzt als tatsächlich in ihrer Diskursivität untersucht.
Was Greyerz in den einzelnen Kapiteln an Informationen und Einsichten liefert, ist solide und gründlich. Man wird sowohl über die allgemeinen Zusammenhänge der jeweiligen Lebensphasen in Kenntnis gesetzt wie auch über die Details einzelner exemplarischer Lebensläufe anhand der näheren Beschäftigung mit den Selbstzeugnissen. Dabei versucht Greyerz, seine Leserinnen und Leser möglichst 'nahe' an das historische Material heranzuführen, mit dem er sich nun schon seit vielen Jahren intensiv beschäftigt. Daher finden sich in dem Buch zahlreiche und meist sehr ausführliche Quellenzitate. Dieses Vorgehen hilft natürlich, die Inhalte dieser Texte zu verdeutlichen, kann also die Zugangsmöglichkeiten von Greyerz zu seinem historischen Thema deutlich machen. Damit gehen jedoch auch nicht zu übersehende Kosten einher. Denn per se ist die Themenstellung des Buchs eine, die auch größere Leserkreise interessieren könnte. Die ausführlichen Zitate unterbrechen jedoch nicht nur den Lesefluss, sondern sind in ihrem Frühneuhochdeutsch für Laien nur mit Schwierigkeiten zu konsumieren oder müssen gar unverständlich bleiben. Es ist natürlich immer eine diffizile Entscheidung, ob man Quellen möglichst in der überlieferten Textform belässt oder zu Zwecken der besseren Lesbarkeit 'übersetzt', um auch einen breiteren Leserkreis zu erreichen. (Der aktuelle und verlegerisch auch recht erfolgreiche Fall einer 'Übersetzung' von Grimmelshausens "Simplicissimus" aus dem Deutsch des 17. Jahrhunderts ist ein Exempel für das Pro und Contra dieser Frage.) Deutlich abgemildert wird dies jedoch durch Greyerz' Einbeziehung von Bildmaterial. Nicht nur, dass sich das Thema auch auf bildlicher Ebene gut zur Darstellung bringen lässt, Greyerz begnügt sich darüber hinaus nicht mit einer rein illustrativen Funktion von Kupferstichen oder Holzschnitten, sondern baut diese in seine Interpretation mit ein.
So bleibt schließlich der Eindruck von einem Buch, das als Synopse angelegt ist, um möglichst viele Facetten zu versammeln, welche die unterschiedlichen Phasen frühneuzeitlichen Lebens betreffen, sowohl solche allgemeiner Art wie auch solche detaillierter und materialgesättigter Provenienz. Auch wenn die Frage nach Lebensstufenmodellen in der Frühen Neuzeit kaum zur Entfaltung kommt, so ist man hinsichtlich der historisch-anthropologischen wie auch der sozialgeschichtlichen Erforschung einzelner Lebensphasen in der Frühen Neuzeit bei Greyerz sicherlich an der richtigen Adresse.
Anmerkungen:
[1] Kaspar von Greyerz: Vorsehungsglaube und Kosmologie. Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts. Göttingen / Zürich 1990.
[2] http://selbstzeugnisse.histsem.unibas.ch
Achim Landwehr