Marie Schlüter: Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert. Quellenkundliche und sozialgeschichtliche Untersuchungen (= Abhandlungen zur Musikgeschichte; Bd. 18), Göttingen: V&R unipress 2010, 375 S., ISBN 978-3-89971-727-3, EUR 49,90
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Es ist ein heikles Unterfangen, die Musikgeschichte einer Stadt schreiben zu wollen, und sei es auch in einem gut begründet eingeschränkten Zeitraum. Zu intensiv sind derartige Themen im deutschsprachigen Raum von jener Generation historisch arbeitender Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler bearbeitet worden, deren Konzepte man überholt wähnt. Von anlassgebundener Apologetik (etwa bei Stadtjubiläen) einmal abgesehen, ist die weitaus größte Zahl musikbezogener Stadtgeschichten mindestens ein halbes Jahrhundert alt. Der Gründe dafür sind viele. Quellenverluste infolge der Wirren des 2. Weltkriegs etwa können Forschungen häufig zu fragmentarischen Unternehmungen machen, vor allem aber hat man auch in der Musikwissenschaft gelernt, sich mit dem Exemplarischen zu bescheiden und lediglich Beiträge zu einem Gesamtbild beizusteuern, das dann nicht mehr nur einem ereignisgeschichtlichen Narrativ folgt, sondern auch eine Vielzahl anderer Fragestellungen in den Blick zu nehmen hilft.
Marie Schlüter hat sich der Aufgabe, eine Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert zu schreiben, von einer anderen Richtung her angenähert. Ihre Göttinger Dissertation aus dem Jahr 2007, die hier in einer geringfügig überarbeiteten Fassung in einem schön edierten Buch vorliegt, besteht ausweislich des Untertitels in quellenkundlichen und sozialgeschichtlichen Untersuchungen. Genauer wäre von einer struktur- und institutionengeschichtlichen Perspektive zu sprechen, die im Wesentlichen in den drei umfangreichen Mittelkapiteln der Studie dargelegt wird. Das erste dieser drei Kapitel widmet sich der Musik an den Wittenberger Institutionen: der Schloss- und Universitätskirche, der Stadtkirche und der Universität; eingeschlossen sind auch kurze Ausführungen zum städtischen Musikleben. Das zweite Kapitel beschreibt handschriftliche und gedruckte Musikalien aus Wittenberg, wobei die von Wittenberg ausgegangenen Notendrucke vornehmlich in Gestalt eines Katalogs zusammengefasst sind. Das letzte der drei großen Mittelkapitel schaut schließlich auf die Wittenberger Musikalienbibliotheken: die Universitätsbibliothek, bis zum Ende des Schmalkaldischen Kriegs kurfürstliche Bibliothek, die Bibliothek der Stadtkirche sowie schließlich die Musikalienbibliothek des Stephan Roth, der 1523/24 in Wittenberg bei Luther Vorlesungen hörte, bevor er in seiner Heimatstadt Zwickau zum Stadtschreiber berufen wurde. Einer überaus konzisen Zusammenfassung folgt noch ein wertvoller Anhang, in dem auf knapp 60 Seiten eine Musiker-Prosopographie gegeben wird, in dem alle namentlich nachweisbaren Musiker mit Lebensdaten und Literaturhinweisen verzeichnet sind, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts professionellen Kontakt mit Wittenberg hatten.
In dieser Zusammenschau zeigt sich ein Bild von überraschender Differenziertheit, das den früheren Forschungsstand beachtlich erweitert. Insbesondere die Interaktionen zwischen den Institutionen, aber auch die jeweiligen Zuständigkeiten sind klar herausgearbeitet: So gibt es eine enge Verbindung zwischen der Musik an der Universität und jener an der Schlosskirche, dergestalt, dass begabte Studenten gegen Entlohnung einen Chor bilden, der von einem Inspector choralis geleitet wird, dessen Amt an der Universität beheimatet ist. Ähnlich eng sind Stadtkirche, Stadtpfeiferei und Lateinschule miteinander verwoben; ein Modell, das aus zahlreichen, vornehmlich lutherisch geprägten Städten bekannt ist, wo sich eine solche Verflechtung teilweise bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein erhalten hat. Die unterschiedlichen Profile spiegeln sich auch in den Beständen der Bibliotheken wider: Während in der Universität das moderne Repertoire mit Drucken aus Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden dominiert, findet sich in der Stadtkirchenbibliothek vornehmlich Einheimisches: bei den Drucken solche mit Provenienzen in Wittenberg und Nürnberg. Etwas weniger eindeutig wäre das Bild hier vermutlich ausgefallen, wenn die in den Inventaren nachgewiesenen Sammeldrucke nicht in Bezug auf die Druckorte, sondern auf die Komponisten der enthaltenen Werke einbezogen worden wären. Es hätte sich dann gezeigt, dass die untersuchten Wittenberger Bibliotheken ähnliche Vorstellungen eines musikalischen Kanons ihrer Zeit erkennen lassen.
Die Einbeziehung der Musikalienbibliothek Stephan Roths fügt sich nicht bruchlos in dieses Bild, auch wenn die frühere Forschung sich schon gelegentlich darauf verständigt hat, diese Sammlung im Kontext der Wittenberger Musikgeschichte zu betrachten. Doch handelt es sich um eine Privatsammlung, deren Beziehungen zu Wittenberg nur mittelbar sind: Roth hat zwar enge persönliche und fachliche Kontakte mit Wittenberg unterhalten, war am Musikleben Wittenbergs aber nicht erkennbar aktiv beteiligt; in der Musiker-Prosopographie im Anhang erscheint er folglich mit der Funktion "Notensammler". Gehört er damit schon zur Wittenberger Musikgeschichte des 16. Jahrhunderts? Solange die Fragestellung struktur- und institutionengeschichtlich perspektiviert ist, muss die Antwort "nein" lauten. Bezieht man die Grunderkenntnis des spatial turn ein, derzufolge sich ein Raum - oder auch eine Stadt wie Wittenberg - in einer von den jeweiligen Akteuren erst in Kommunikation und Interaktion hergestellten Relation konstituiert, lautet die Antwort ebenso klar "ja, aber". Und dieses "aber" scheint mir dann doch auf ein gewisses Defizit dieser Arbeit hinzuweisen. Zweifellos ist Wittenberg im 16. Jahrhundert die zentrale Stadt der lutherischen Reformation. Gerade deswegen ist Wittenberg als Stadt nicht allein auf das Engste mit anderen Städten der reformatorischen Kernlande verbunden, auch die Universität bündelt das Interesse wie ein Brennglas. Einen ihrer Studenten herauszugreifen, nur weil seine Musikaliensammlung gut dokumentiert ist, muss willkürlich anmuten und den ansonsten klar strukturgeschichtlichen Ansatz stören. Doch dass es sich um einen strukturgeschichtlichen Ansatz handelt, expliziert die Autorin nirgends, wie überhaupt in der gesamten Studie Überlegungen zur theoretischen Grundlegung und daraus abgeleiteter Methoden der Untersuchung fehlen: Was Marie Schlüter unter "sozialgeschichtlichen Untersuchungen" versteht, muss man aus dem Ergebnis rückschließen.
In der Summe bleibt der Eindruck einer grundsoliden und auf breiter Basis gearbeiteten Studie, die viele neue Einsichten vermittelt und Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein kann. Das Fehlen methodischer Reflexion freilich ist ein konzeptioneller Mangel, der den Wert dieser Arbeit schmälert - zumindest solange man tatsächlich erwartet, eine Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert vor sich zu haben.
Andreas Waczkat