Rezension über:

Dieter Hertel: Das frühe Ilion. Die Besiedlung Troias durch die Griechen (1020-650/25 v. Chr.) (= Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft; Heft 130), München: C.H.Beck 2008, XIV + 279 S., ISBN 978-3-406-56485-7, EUR 78,00
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Rezension von:
Michaela Oberhuber
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Michaela Oberhuber: Rezension von: Dieter Hertel: Das frühe Ilion. Die Besiedlung Troias durch die Griechen (1020-650/25 v. Chr.), München: C.H.Beck 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/18786.html


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Dieter Hertel: Das frühe Ilion

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Kehrt der Mythos um den Krieg vor Troia ewig wieder? Seit Schliemann schwappen Troia und Homer wellenartig in die Landschaften der Altertumswissenschaften hinein und vermögen manchmal bis in die Binnenregionen außerfachlicher Öffentlichkeit durchzusickern, wie die Korfmann-Kolb-Debatte 2001/02 zeigte. Sind die Wogen nun auch geglättet, die diese Kontroverse zum "Streit um Troia" empor geschleudert hatten - die Beschäftigung mit Troia und Homer blieb auch weiterhin nicht aus. So legte 2008 der Archäologe Dieter Hertel eine weitere Monographie zum antiken Troia vor.

Hierin verfolgt Hertel zwei Untersuchungsstränge, die - miteinander verknüpft - Aufschluss über die Geschichte besagten Siedlungsgebietes in den so genannten Dark Ages liefern sollen. Zum einen sucht er der opinio communis hinsichtlich der angeblichen Siedlungslücke in Troia vom 11. zum 7. Jahrhundert entgegenzutreten (3). Aufbauend auf der These von Siedlungskontinuität schlägt Hertel die zweite Schneise, in welcher es um den Nachweis geht, dass Troia "spätestens seit 900 v. Chr. [als] eine weitgehend griechisch geprägte Siedlung" aufzufassen und seine Bewohner als "Griechen" zu identifizieren seien (7).

Positiv hervorzuheben an dieser Studie ist, dass sie ihre Grundthese nicht anhand einseitigen Quellenmaterials zu untermauern sucht, sondern sich auf einem breiten Quellenkorpus aufstellt: Hertel stützt seine Ausführungen zum einen auf den archäologischen Befund, lässt jedoch die schriftlichen Zeugnisse nicht außen vor. Diese interdisziplinäre Herangehensweise bestimmt so die Gliederung der Arbeit. Im ersten Abschnitt präsentiert Hertel - nach Gebäuden geordnet, in detaillierter Weise und durch einen Abbildungsanhang veranschaulicht - das archäologische Fundmaterial sowie den baugeschichtlich-stratigraphischen Befund. Seine Interpretation führt dabei zum Ergebnis, dass die Schicht Troia VIII (allgemein gleichgesetzt mit dem griechischen Ilion) in zeitlicher Nähe zum Ende der Schicht Troia VIIb2 datiert werden sollte, sodass der Beginn von Troia VIII von 700 auf etwa 1020 zurückgesetzt werden könne. Weiter interpretiert Hertel die Keramik, aber auch die Mauertechnik und die Gebäudegrundrisse von Troia VIII früh als "charakteristisch für die griechische Kultur"(19; 45; 68; 71), weshalb man ab etwa 1020, spätestens ab 950 v. Chr. von einer Präsenz von Griechen ausgehen könne (154).

In einem Interpretationsmodell, das auf Basis materieller Hinterlassenschaften auf die ethnische Identität der dahinterstehenden Gruppen schließen will, sind religiöse Aspekte generell von assoziativ bedeutender Relevanz. Hertel stellt im frühen Troia "typisch griechische Heiligtümer" fest (79), die in das 9. Jahrhundert (bzw. um 900) datiert und als Heiligtum der Athena Ilias sowie als griechische Totenkultanlage (paved circles) ausgemacht werden. Das in der Einleitung vorgebrachte Postulat, sich "aus methodischen Gründen" mit den archäologischen und schriftlichen Quellen getrennt zu beschäftigen (7), wird hier durchbrochen. Dies liegt nahe angesichts der Tatsache, dass ein angebliches frühgriechisches Heiligtum der Athena Ilias nach den baulichen Umwälzungen um 300 v. Chr. archäologisch nicht fassbar ist (80; 82). Nichtsdestotrotz diene es als "sprechende[s] Zeugnis[...] für die Troia seit 900 bzw. dem 9. Jahrhundert v. Chr. bestimmende griechische Kultur und für eine Niederlassung von Griechen auf Hisarlik" (113). Die archäologische Rekonstruktion dieses Heiligtums basiert zum einen auf den Schriften Strabos (1. Jahrhundert n. Chr.) und Arrians (2. Jahrhundert n. Chr.) - ihre zeitlichen Angaben zu einem Athenaheiligtum in Troia beziehen sich allerdings auf Alexander III. (4. Jahrhundert v. Chr.) - sowie auf der Ilias. Zum anderen wird auf die Methode der Analogie zurückgegriffen: Von Eigenschaften anderer griechischer Heiligtümer wird auf dieses in Troia archäologisch nicht nachweisbare geschlossen um aufzuzeigen, dass es sich bei letzterem um ein griechisches gehandelt habe (79-108). Zusätzlich bestärkt werden soll die These von griechischen Kulten im frühen Ilion durch Baustrukturen, die als griechische Totenkultanlagen identifiziert werden. Bedauerlicherweise wird für den Nachweis, warum diese Strukturen als griechisch anzusehen seien, auf eine frühere Publikation des Autors verwiesen, was die Nachvollziehbarkeit der Argumentation gerade eines derart wichtigen Aspektes hier leider erschwert (108).

Auch die Behandlung der schriftlichen Zeugnisse gilt dem Nachweis von Griechen im frühen Troia. In diesem Abschnitt bezieht sich Hertel unter anderem auf griechische Toponyme und die Angabe von griechischen Kulten bei Homer. Da diese in der Ilias nur beiläufig erwähnt werden, zeuge das Epos davon, dass diese griechischen Momente in der Troas schon lange Zeit vor Homer geläufig gewesen seien, also Griechen hier schon lange vor Homer gesiedelt hätten. Erneut muss Hertel für die Abrundung seiner These auf den anderen Quellenpfeiler zurückgreifen: wie lange vor Homer nämlich Griechen dieses Gebiet bewohnt hätten, lässt sich nur mit einem Rückgriff auf Hertels archäologische Ergebnisse zeitlich bestimmen.

Analyse und Interpretation der Quellen münden in einer umfassenden Re-Konstruktion der historischen Verhältnisse Troias im 11./10. Jahrhundert v. Chr. Die Besiedlung des Gebietes am Hügel von Hisarlik bringt Hertel mit der Aiolischen Kolonisation in Verbindung. Sowohl die Keramik als auch die bei Homer bezeugten Toponyme und Kulte deuten für ihn auf eine Verbindung mit Mittelgriechenland und Lesbos hin. So identifiziert Hertel die Bewohner des frühen Ilion als Griechen, die ursprünglich aus Mittelgriechenland stammten und in Lesbos Station gemacht hätten. Er betont aber auch, dass diese Besiedelung Troias ein sich über einen längeren Zeitraum erstreckender, also ein Infiltrationsprozess gewesen sei. (187ff.)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Hertels Studie einen umfassenden, weitreichenden Vorschlag zur Geschichte rund um Troia und Homer präsentiert, der sich durch eine konsistente, in sich geschlossene Argumentation auszeichnet, und einen detailreichen Einblick bietet. Die sprachliche Gestaltung wird zwar der systematischen Aufbereitung des Stoffes gerecht, hemmt aber bisweilen die Lesefreudigkeit. Über das Modell, das Hertels Interpretation zugrunde liegt, kann man geteilter Auffassung sein. Ist man gewillt von wie auch immer gearteten materiellen (aber auch kulturellen) Charakteristika auf eine spezifische ethnische Identität zu schließen? Auf andere Erklärungsversuche, die Handels- bzw. Kulturkontakte ins Spiel bringen, geht Hertel zwar ein, verwirft diese aber, da der niedrige Zivilisationsstand der Bevölkerung von Troia VIIb2 solche Vorgänge nicht möglich gemacht habe (149ff.). Ist man auch gewillt, der Ilias ein historisches Substrat für Prozesse des 11./10. Jahrhunderts zuzugestehen (201)? Das hängt von der Datierung des Epos ebenso wie vom memorialen Aussagegehalt und dem zeitlichen wie örtlichen Referenzrahmen ab, die man dem Epos zuschreibt. Und nicht zuletzt stellt sich vor dem Hintergrund des Konzepts der Ethnogenese die Frage, was denn im 11./10./9. v. Chr. "Griechen" und "griechisch" eigentlich heißen kann.

Die Zugänge zu diesen Fragen sind vielfältig. Hertels Monographie bietet einen Weg. Dass er nicht der einzige ist, zeigt die Debatte um die Thesen von Raoul Schrott; Thesen, die einem Teil des Hertelschen Fundaments den Boden entzögen, wenn man sie nicht wie Hertel als "durch und durch phantastisch und ganz unhaltbar"(X) abtut. Aber auch dann werden Fragen offen bleiben und neue sich ergeben. Die ewige Wiederkehr von Homer und Troia scheint eben kein Mythos zu sein.

Michaela Oberhuber