Rezension über:

Fred Spier: Big History and the Future of Humanity, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2010, XV + 272 S., ISBN 978-1-4443-3421-0, GBP 70,00
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Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: Fred Spier: Big History and the Future of Humanity, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 12 [15.12.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/12/18052.html


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Fred Spier: Big History and the Future of Humanity

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"Big History" ist, wie der Name schon andeutet, die ganz große Geschichte der Entwicklung der Menschheit und ihrer natürlichen Umwelt. Sie sieht sich in der Tradition einer Naturgeschichte im Stile des späten Alexander von Humboldt, von d'Holbach oder von Chambers. Etabliert hat sie sich bislang vor allem in einzelnen Lehrveranstaltungen in Australien, den USA oder den Niederlanden, wo Spier lehrt. Das vorliegende Werk stellt den Versuch dar, ein Lehrbuch für einen Kurs in Big History zu schreiben und damit das Interpretationsangebot, das dieser Ansatz bereitstellt, einem größeren Publikum vorzustellen.

Am Anfang steht zunächst die Vorstellung der Konzepte, mit deren Hilfe Spier die ganz große Geschichte strukturieren will. Geschichte ist für ihn vor allem die Geschichte des Aufbaus immer größerer Komplexität, die der eigentlich zu erwartenden chaotischen Gleichverteilung von Materie bzw. Energie widerspricht. Offenbar entstanden aber ganz im Gegenteil nach dem "Big Bang" immer komplexere und differenziertere Systeme, zu denen das Sonnensystem, der Planet Erde und die menschliche Kultur, die sich auf diesem Planten entwickelt hat, gehören. Das schafft freilich ein perspektivisches Problem: Eigentlich müsste Big History ja auf eine Geschichte des Universums zulaufen; schreibbar ist aber allenfalls eine Geschichte, die auf Beobachtungen beruht, welche den Menschen, die jetzt auf der Erde leben, zugänglich ist. Insofern handelt es sich notwendigerweise um eine - den Verhältnissen möglicherweise völlig unangemessene - anthropozentrische Großerzählung. Möglicherweise, so legt Spier nahe, verschwindet das Problem aber, wenn man versucht, die "Komplexität" objektiv zu beschreiben und zu messen; zumindest ermöglicht dieses Verfahren, die Geschichte der Menschheit in der für Menschen zu erschließenden Geschichte des Universums zu verorten.

Spier verweist dabei vor allem auf Eric Chaissons Konzept einer "free energy rate density" (grob gesprochen ist damit eine "Leistungsdichte", d. h. die in einem Körper in einer Zeiteinheit umgesetzte Energie gemeint, 31f.). Legt man diese Maßeinheit zugrunde, so wird der Mensch 'objektiv' zur Krone der Schöpfung. Während eine Galaxie nur 0,5 "&#xΦm" (10-4 watt/kg) auf die Waage bringt, so liegt der Säugetierkörper bei 20.000, das menschliche Gehirn bei 150.000 und die moderne Gesellschaft (offenbar zurückgerechnet auf den menschlichen Körper, der das alles kontrolliert) bei 500.000.

Zweites Strukturprinzip: Das "Goldilocks Prinzip" (nach Robert Southeys Märchen "The Three Bears"), dem zufolge die Existenz bestimmter Komplexitäten nur in einem bestimmten Rahmen, etwa in einer bewohnbaren (oder "Goldilocks") Zone um einen Stern denkbar ist. Damit ist zugleich das Prinzip der großen Geschichte vorgegeben: Während die Rahmenbedingungen, in denen sie sich abspielt, durch ahistorische Naturgesetze vorgegeben sind, ist das, was innerhalb der Rahmenbedingungen tatsächlich passiert, durch Zufall geprägt, also nur historisch zu erklären.

Spiers Versuch einer narrativen Erklärung beginnt mit dem Urknall (41-61), schreitet fort zum Sonnensystem (62-81), der Ausbildung biologischen Lebens auf der Erde (82-110), der Entstehung der Menschheit (111-137) und der 'neuen' menschlichen Geschichte seit der Agrarrevolution (138-188) um abschließend einige Prognosen über die Zukunft zu wagen (189-204).

Das Buch ist in der besten Tradition populärer (natur-)wissenschaftlicher Darstellungen geschrieben und gut zu lesen, wenn es auch dem Wissensstand, den man aus anderen Quellen beziehen könnte, nicht wahnsinnig viel hinzufügt; das ist freilich auch nicht sein Ziel, da es als erste Einführung gedacht ist.

Als Beispiel des historischen Projekts Big History macht es einen etwas ambivalenten Eindruck. Es zeichnet klar die großen Linien nach, die deutlich machen, warum bestimmte Dinge so gekommen sind, wie sie sich jetzt darstellen. Es kann aber - angesichts der Beschränkung auf wenige Seiten für kontroverse naturwissenschaftliche wie historische Themen, zu denen es jeweils ganze Bibliotheken gibt - wenig Raum darauf verwenden, zu diskutieren, wie (und ob) es auch anders hätte kommen können, d. h. genau die historische Dimension der Erklärung einzulösen, die Spier als eigentliches geschichtswissenschaftliches Interesse des Projekts benennt. Insofern muss man wohl, um solche Themen diskutiert zu sehen, doch einen seiner Kurse besuchen. Das Buch macht klar, dass das eine äußerst spannende und bereichernde Erfahrung sein muss - und daher hofft man auf eine noch größere große Geschichte.

Andreas Fahrmeir