Christoph Markschies / Hubert Wolf (Hgg.): Erinnerungsorte des Christentums, München: C.H.Beck 2010, 800 S., 126 Abb., ISBN 978-3-406-60500-0, EUR 38,00
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Die zentralen Erinnerungsorte des Christentums in 46 Beiträgen im Umfang zwischen 10 und 20 Druckseiten in einem einzigen Band zu vereinen, ist ein ambitioniertes Unterfangen. Ein Unterfangen, das den Herausgebern Christoph Markschies und Hubert Wolf sowie den 44 Autoren, darunter Walter Kardinal Kasper ("Rom") und Sieger Köder (als Illustrator für "Santiago de Compostela"), gut gelungen ist.
Ausgehend von den Abendmahlsworten "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" (Lukas 22,19) wird das Christentum als "Erinnerungsreligion" (10) definiert, dessen 'Erinnerungsorte' als Grundgerüst einer geistigen 'Landkarte' christlicher Kultur präsentiert werden, denn: "Erinnerung gehört zum Wesen des Christentums, [...]." (11) Die nicht auf eine christliche Konfession begrenzte Auswahl der präsentierten "zentralen Orte", "realen Orte" und "übertragenen Orte" (so die Dreigliederung des Bandes) spannt einen Bogen von "Bethlehem" über "Santiago de Compostela" bis hin zu den "Festen im Kirchenjahr". Zum Schluss und außerhalb der Dreigliederung steht der Artikel "Kirchen" von Etienne François, der als Mitherausgeber des Bandes Deutsche Erinnerungsorte (2001) den hier aufgegriffenen Begriff mitprägte.
Doch die Herausgeber wollen dabei mehr bieten als nur ein "Kompendium christlicher Erinnerungskultur" (727), und sie fragen zum Schluss: "Vielleicht handelt es sich sogar um eine 'ökumenische Kirchengeschichte' ganz neuer Art?" Auch wenn sie die Antwort schuldig bleiben: Der Ansatz, konfessionelle Gemeinsamkeiten anhand von realen und übertragenen 'Orten' festzustellen, ist es wert, weitergedacht zu werden.
Dabei macht nicht nur die ökumenisch ausgerichtete "Erinnerungstheologie" (20) mit dem "zentralen Erinnerungsort des Christentums - Wort, Werk und Person Jesu von Nazareth" (21) - in Anschluss u.a. an Rahner und Tillich sowie die "theologische Reflexion [...] seit der Liturgischen Bewegung und den liturgischen Reformen des 20. Jahrhunderts" (24) die besondere Konzeption des Bandes aus. Es ist darüber hinaus der in der Ortsmetapher angelegte Anschluss an kulturwissenschaftliche Ansätze von Gedächtnis und Erinnerung. Exemplarisch steht hier Jan Assmanns viel zitiertes Werk Das kulturelle Gedächtnis (1997), das auch für Markschies und Wolf zum - wenn auch nicht mehr ganz aktuellen und gegenüber den theologischen Reflexionen knapp gehaltenen - Ausgangspunkt wird. Und gerade die Konkretisierung von Erinnerung anhand realer und übertragener 'Orte' macht den Band für Historiker, Kultur- und besonders Religionswissenschaftler interessant. Religionen als menschliche Systeme der Sinndeutung wären ohne Erinnerung und deren Verortung nicht denkbar.
Innerhalb der Dreigliederung hat man sich für eine alphabetische, nicht für eine systematische Anordnung entschieden. Das mag bei den wenigen "Zentralorten" irritieren, macht aber v.a. bei den zahlreichen "übertragenen Orten" Sinn: Es erleichtert die Auffindbarkeit und unterstreicht den Charakter des Bandes als "Kompendium" (727). Das umfangreiche und gut strukturierte Register (Hans Cymorek) tut sein Übriges dazu und erleichtert die Handhabung.
Markschies und Wolf schreiben selbst, dass sie sich auf Vorschläge freuen, "was man alles hätte anders [...] machen können" (726). Der Rezensent möchte hier nicht am Detail mäkeln. Aber eines ist den Herausgebern doch vorzuhalten: Dass sie sich angesichts der heute so großen Bedeutung der Christenheit außerhalb Europas ganz auf das Heilige Land und Europa beschränken (Konstantinopel mag hier als Grenzfall und Ausnahme zugleich gelten). 'Erinnerungsorte' des außereuropäischen Christentums wären ein Desideratum für einen Folgeband.
Die sieben "Zentralorte" bilden den Ausgangspunkt: Bethlehem (Peter Welten) als Erinnerungsort der Geburt Jesu, Rom (Walter Kardinal Kasper) stellvertretend für die West-, Konstantinopel für die Ostkirche und Wittenberg für die Reformation (hinzu kommen: Genf, Jerusalem, Sinai). Und schon der erste Beitrag des Bandes macht deutlich, dass Erinnerung nicht nur die Erinnerung an Vergangenes, sondern die Aktualisierung dieser Erinnerung in der Gegenwart ist. So spannt Welten den Bogen der "Bethlehem-Erinnerung" ausgehend von der Krippe als Sinnbild des Weihnachtsbrauchtums über die alttestamentliche Tradition, die feste Verquickung der christlichen Geburtsüberlieferung mit diesem Ort bis in die von politischen Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern bestimmte Gegenwart. Herausragend in dieser Hinsicht ist auch der Beitrag "Rom". Nicht nur, dass Kardinal Kasper aus der Fülle christlicher Monumente wiederum die 'Zentralorte' herausgreift und sie in eine katholische Erinnerungstheologie einordnet. Es ist darüber hinaus der Abschnitt "Die Altäre" (119-122), der die kulturwissenschaftliche Nutzbarkeit der Ortsmetapher vor Augen führt. Es geht hier nicht um einen individuellen Ort, sondern um einen örtlichen 'Idealtyp', der sich in jedem erbauten Altar wieder konkretisiert und so jeweils das damit verbundene Erinnerungskonzept aktualisiert. Der Artikel "Kirchen" schließt den Band genau mit diesem von Kasper aufgemachten Konzept: der sich weltweit immer wieder reproduzierende Kirchenbau (innerhalb dessen der Altar eine entscheidende Stelle einnimmt) als das "sichtbare Gedächtnis der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums" (723).
Auf die realen Zentralorte folgen dreizehn bedeutsame "reale Orte". Darunter befinden sich "Altötting" ebenso wie "Assisi", "Köln", "Montecassino" und "Santiago de Compostela". Dabei setzt nicht jeder Beitrag das den Band überspannende Konzept überzeugend um. So bietet etwa der Beitrag "Altötting" von Manfred Weitlauff zwar eine datenreiche Geschichte der Überlieferung zu Ort und Wallfahrt. Die besondere Perspektive auf Altötting als 'Erinnerungsort' scheint dabei nur am Rande durch. Ganz anders dagegen "Montecassino". Auf erhellende Art und Weise zeichnet Gert Melville nach, wie aus der schwer rekonstruierbaren Erinnerungstradition an einen Mönch und Klostergründer Benedikt sowie an eine mit diesem Namen verbundene Klosterregel schließlich die auf dem Montecassino verortete Erinnerungskultur des Benediktinertums 'konstruiert' wird. Der Beitrag "Köln" (Heribert Müller), der als dritter herausgehoben sei, ist nicht nur amüsant zu lesen, sondern entschlüsselt die Vielgestaltigkeit des 'Erinnerungsorts' Köln vom Reliquienreichtum des Mittelalters, über - natürlich - den Dom bis hin zur engen Verbindung von Festkultur und kölschem Katholizismus.
Auf die "zentralen" und "realen" folgen 24 "übertragene Orte" von "Bibel" über "Kreuz" bis hin zu den "Vereinen". Dabei handelt es sich bei den meisten Stichwörtern unbestreitbar um zentrale topoi christlicher Kultur. Trotzdem bleibt anzumerken, dass bei einzelnen Beiträgen die Einordnung als 'Erinnerungsorte' die an sich fruchtbare Ortsmetapher etwas überspannt. Einleuchtend, wenn auch nicht auf den ersten Blick, ist sie etwa im Beitrag "Feste im Kirchenjahr" (Werner Mezger). Er zeigt auf plastische Art und Weise, wie der christliche Festkalender mit seinen zeitlich verorteten Landmarken (Ostern, Weihnachten, Herren-, Marien- und Heiligenfeste) bis heute unsere gesamte Kultur und deren Erinnerung prägt. Weniger einsichtig ist die Einordnung von "Maria" (Klaus Schreiner) als 'Ort', auch wenn dies sicherlich an die oben erwähnte Definition von Jesus Christus als dem "zentralen Erinnerungsort des Christentums" (21) anschließt. Der an sich fundierte Artikel über Marientraditionen - dort kommt die Gottesmutter v.a. als Patronin in den Blick - hätte diesen Aspekt noch deutlicher machen können. Einsichtiger wird die Ortskonzeption dann wieder bei "Himmel - Hölle - Fegefeuer" (I: Christoph Auffarth, II: Bernhard Lang), auch wenn sich die im Band sonst in dieser Form nicht vorkommende Zweiteilung des Stichworts hier nicht erschließt. "Nationalsozialismus und Kirchen" dagegen ist zwar ein wichtiger Beitrag zur kirchlichen Erinnerungs- bzw. Verdrängungskultur seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Inwieweit dieser Umgang mit der eigenen Vergangenheit auch als 'Ort' zu verstehen ist, mag dahin gestellt sein.
Bleibt abschließend zu sagen, was anfangs bereits anklang: Der vorliegend Band ist lesenswert und lädt dazu ein, ihn immer wieder zur Hand zu nehmen und sich so den ein oder anderen 'Erinnerungsort' ins Gedächtnis zu rufen. Ein Buch, das noch länger in Erinnerung bleiben wird.
Oliver Grasmück