Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen - Staunen - Glauben. Der Maler und sein Werk, München: C.H.Beck 2009, 320 S., ISBN 978-3-406-59140-2, EUR 58,00
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Caravaggio hat Hochkonjunktur: auf dem Kunstmarkt, der eine wundersame Vermehrung der als Originale gehandelten Gemälde verzeichnet. Auf Nebenschauplätzen, die ein breites Publikum erreichen - 2009 erschien ein Caravaggio-Roman von Tilmann Röhrig, für 2011 ist die Premiere einer von Philippe Jaroussky komponierten Oper angekündigt. Schließlich natürlich in der kunsthistorischen Forschung, die allein in den letzten fünf Jahren über 200 Beiträge zu Caravaggio hervorbrachte.
Das Werk des früh verstorbenen Künstlers scheint sich dabei geradezu als Projektionsfläche vielfältigster Ansätze, Thesen und Methoden anzubieten. Eine "klassische" Monografie zu Caravaggio vorzulegen, ist dagegen derzeit fast ein gewagtes Unterfangen. Sibylle Ebert-Schifferer ist das Risiko eingegangen. Herausgekommen ist ein in sich stimmiges Bild des Malers, das mit Klischees aufräumt, indem es Quellenkritik, Bildanalysen und Erläuterungen zum historischen Hintergrund vorbildlich verzahnt.
Über Legendenbildung informiert bereits die Einleitung, die den Leser für Mechanismen von Werbekampagnen aus Freundeskreisen, Diffamierungen durch Rivalen und Strategien von Biografen sensibilisiert. Der klassische Aufbau nach Schaffensphasen gibt Einblicke in Caravaggios venezianisch geprägte Ausbildung in der Lombardei, lässt den Leser teilhaben an der Eroberung des Kunstmarktes in Rom und beleuchtet die im Exil entstandenen Werke mit Blick auf die Klientel, die Caravaggio in Süditalien vorfand.
Durchgehend werden sorgfältig das jeweilige intellektuelle Umfeld, die in ihm geführten kunsttheoretischen und theologischen Debatten, das Netzwerk der untereinander vielfach verknüpften Auftraggeber, Kunstmarktstrategien sowie soziale Kontakte und Verhaltensmuster charakterisiert. Wichtig ist es der Autorin, darzulegen, dass Caravaggio mit seinem aus heutiger Perspektive auffälligen, zu Gewalt neigenden Verhalten kein Einzelfall war. Sozialer Ehrgeiz ließ manchen Künstler in Ehrenhändeln zu "Lösungen" greifen, für die der Adel das Vorbild abgab, der Angriffe auf die Ehre niederschwellig abwehrte. Caravaggio wird dadurch wahrlich nicht zum Heiligen, aber seine kriminelle Karriere relativiert sich erheblich. Dass er zugleich als historische Persönlichkeit an Konturen gewinnt, ist eine der ganz großen Stärken des Buches.
Ebert-Schiffer schreibt lebendig, engagiert und überzeugend gegen Mythen, Legenden und Klischees an. Ihr dringliches Anliegen ist es, dem Kurzschluss von Leben und Werk als Methode Einhalt zu gebieten. Leben und Werk trennen zu wollen, scheint manchem einer Vivisektion gleichzukommen und die Faszination gerade darin zu bestehen, dass der Künstler - die Anleihe beim therapeutischen Jargon scheint mir hier passend - "sich einbringt" in seine Gemälde. Popularität und Hartnäckigkeit des biografischen und psychologischen Ansatzes rechtfertigen den Aufwand, mit dem die Autorin ihre Überzeugungsarbeit leistet, fordern aber als Preis, dass die Vorstellung der einzelnen Gemälde teilweise knapp ausfallen muss.
Ebert-Schifferer betrachtet konsequent nur die Werke eingehend, die ihr sicher als Originale gelten. Die Auswahl der Gemälde, die Eingang in das den Band beschließende Werkverzeichnis erhalten haben, ist sehr restriktiv getroffen - mit 172 sind es deutlich weniger, als Catherine Puglisi [1] sie 1998 zusammentrug.
Kurz und prägnant analysiert Ebert-Schifferer die Gemälde, ihre Ikonografie und Funktion, auch den Werkprozess, und macht auf Besonderheiten, Vorbilder und Nachfolger aufmerksam. Sie schlägt dabei sehr beherzt eine Schneise in den Interpretationsdschungel - interessierte Laien und Neulinge auf dem Gebiet der Caravaggio-Forschung werden es ihr danken. Doch auch wenn man (wie ich, und zwar mit Nachdruck) die jeweils von Ebert-Schifferer favorisierten Deutungen unterstützt und auch die selben Hintergrundinformationen für mitteilenswert hält: Ein wenig mehr Diskussionsfreude, ein wenig mehr Einblicke in die kunsthistorische Werkstatt hätte dem Leser zugemutet werden können. So macht Ebert-Schifferer zum Beispiel darauf aufmerksam, dass verschiedene Kandidaten für die Rolle des Matthäus in der berühmten "Berufung" vorgeschlagen worden sind, nennt aber lediglich Argumente, die ihre Identifikation (der Bärtige am Tisch) stützen und entscheidet auch in anderen Punkten quasi-autoritär. Mit dem Hinweis, dass sich das Frömmigkeitsideal von der ersten zur zweiten Fassung des Emmausmahls gewandelt habe, wird der Leser ebenfalls zu schnell sich selbst überlassen.
Alle besprochenen Werke sind in hervorragender Druckqualität abgebildet. Die opulente Bebilderung des Bandes auch mit Vergleichsbeispielen würde aber noch mehr Anlass zur Freude geben, wenn nicht ein Teil der vermeintlichen Gesamtaufnahmen beschnitten wäre. Es mögen wenige Zentimeter sein, die an den Rändern (z.B. Abb. 57, 67, 106) fehlen - aber sie fehlen, ohne dass darauf hingewiesen wird, dass letztlich ein Ausschnitt gewählt wurde. Die Kritik trifft freilich nicht die Autorin und - leider - auch nicht nur diesen Band, sondern eine allgemeine Tendenz in der Abbildungspolitik der Verlage.
Wie ein roter Faden ziehen sich Lieblingsfragen der Caravaggio-Forschung durch das Buch: das Modellstudium, die Selbstporträts, mit denen Caravaggio in religiösen Werken seine spirituelle Zeugenschaft dokumentiert, die Identifikation der Modelle. Auch hier wieder einen historischen Zugang freizulegen, den biografische und psychologisierende Ansätze immer wieder zu verschütten drohen, war längst überfällig.
Die mit "Kunstqualitäten" betitelten Schlusskapitel stellen zentrale Streitpunkte der Caravaggio-Forschung auf den Prüfstand: Zu Caravaggios Erfolgsgaranten gehörten der Rückgriff auf den visuellen Fundus, den er aus seiner Lehrzeit mitbrachte, und die Verschleierung von Werkstattfragen mit dem Phänomen der Repliken und Kopien. Caravaggio stilisierte allerdings nicht nur sein Image zur Marke, sondern verteidigte auch seine spezifischen Kunstqualitäten, insbesondere seine Beleuchtungsstrategie, die er nachgerade als Alleinstellungsmerkmal für sich reklamierte. Das Zitieren von berühmten Vorbildern wie Michelangelo stellte nicht nur die Gewitztheit des Künstlers unter Beweis, sondern öffnete auch den Kunstkennern Assoziationsräume. Leicht verständlich, doch ohne zu simplifizieren, sind auch die Überlegungen zur Technik, die die Frage nach vorbereitenden Studien einschließen und an die Interpretationsbedürftigkeit scheinbar objektiver Hilfsmittel wie Röntgenaufnahmen erinnern. Nicht von ungefähr beschließt Ebert-Schifferer ihr Buch erfrischend schnörkellos mit einem Kommentar zur Frage nach Caravaggios Homosexualität: "In einer Zeit, in der eine bekenntnishafte Identifizierung mit Sexualitätsformen weder möglich noch relevant war, ist die Frage, ob Merisis Bilder entsprechende Aussagen enthalten, schlicht ahistorisch" (267). Ahistorisch - damit ist auch diese Frage obsolet.
Ebert-Schifferer wartet nicht mit spektakulären neuen Archivfunden auf, sie legt keine Neuinterpretationen einzelner Werke vor, auch die Gemälde, die sie zum Vergleich heranzieht, sind alte Bekannte der Caravaggio-Forschung. Aber das Bekannte wird sehr gründlich neu gesichtet. Dass Künstler und Werk durch die Dekonstruktion von Mythen nicht an Faszination verlieren, sondern durch die historische Rekonstruktion daran gewinnen, spricht für beide: Für Caravaggio und für Ebert-Schifferer.
Anmerkung:
[1] Catherine Rose Puglisi: Caravaggio, London 1998.
Andrea Gottdang