Jörg Arnold / Dietmar Süß / Malte Thießen (Hgg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 10), Göttingen: Wallstein 2009, 374 S., ISBN 978-3-8353-0541-0, EUR 34,90
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Dietmar Süß (Hg.): Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München: Oldenbourg 2007
Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Berlin / München: Propyläen 2002
Malte Thießen: Eingebrannt ins Gedächtnis. Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, München / Hamburg: Dölling und Galitz 2007
Wolfgang Bönitz: Feindliche Bomberverbände im Anflug. Zivilbevölkerung im Luftkrieg, Berlin: Aufbau-Verlag 2003
Rolf-Dieter Müller / Nicole Schönherr / Thomas Widera (Hgg.): Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Göttingen: V&R unipress 2010
Robert Lorenz: Protest der Physiker. Die "Göttinger Erklärung" von 1957, Bielefeld: transcript 2011
Thomas Mergel: Großbritannien seit 1945, Stuttgart: UTB 2005
Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München: Oldenbourg 2011
Malte Thießen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt/M.: Campus 2021
Malte Thießen (Hg.): Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2014
Winfried Süß / Malte Thießen (Hgg.): Städte im Nationalsozialismus. Urbane Räume und soziale Ordnungen, Göttingen: Wallstein 2017
Dieser Sammelband schließt an W. G. Sebalds Diagnose einer "Leerstelle Luftkrieg" in der deutschen Literatur und die Debatten über Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" an. Er geht aber sowohl empirisch als auch konzeptionell deutlich über das hinaus, was bisher schon geleistet wurde, weil die Autorinnen und Autoren die Erinnerungen konsequent auf lokaler Ebene sozialgeschichtlich verorten und auch auf Verflechtungen zwischen westeuropäischen Kommunen hinweisen. Dabei entsteht nicht die schlichte Geschichte einer Europäisierung des Bombenkriegs. Vielmehr liefern die Beiträge in ihrer Gesamtheit eine innovative Deutung der westeuropäischen Nachkriegsgeschichte, welche auf gemeinsame Strukturen eines "merkwürdige[n] Amalgam[s] aus Zerstörungs- und Wiederaufbaugeschichte" (so die Herausgeber in ihrer exzellenten Einleitung, 10) verweist. Diese Deutung behält dabei gleichzeitig die Differenzierungen, Ambivalenzen und Konflikte von Erinnerungskulturen sowohl im westeuropäischen Vergleich als auch auf lokaler und nationaler Ebene im Blick. Die Herausgeber und die Autorinnen und Autoren untersuchen damit nicht nur die Erinnerungsprozesse im lokalen Gedächtnis einiger ausgewählter Städte und Kommunen, sondern bieten durchweg gelungene Analysen des Schaffens und Machens von Geschichte. Dabei rückt auch das komplexe Wechselspiel zwischen Kriegserinnerungen und Kaltem Krieg in den Fokus, wiewohl man hier in den meisten Beiträgen Hinweise auf die Bedeutung der nuklearen Bedrohung als wichtigen Kontext für die Erinnerung an den Bombenkrieg vermisst.
Die Ambivalenzen der Erinnerungsgeschichte zeigen sich besonders gut beim Blick auf Frankreich und Italien in den Aufsätzen von Michael Schmiedel (Frankreich) und Maddalena Carli (Rom). Die Bombardierungen in beiden Ländern fielen in die letzte Kriegsphase, waren ausgesprochen heftig und kamen von den Alliierten. Deshalb mussten die jeweiligen Gesellschaften Wege des Sprechens und des Beschweigens finden, welche die persönlichen Erfahrungen von Verlust und Leid in die jeweiligen Befreiungsmythen integrierte. In Rom geschah dies, indem man den Luftkrieg zum Urerlebnis des antifaschistischen Widerstands stilisierte; in Frankreich wurde die Erinnerung an den Luftkrieg bis in die 1980er Jahre hinein eng an die Erinnerung der Résistance und das Erbe des Gaullismus gekoppelt.
In den Niederlanden und besonders in Großbritannien konnten Zeitgenossen die Frage der Schuld leichter in nationale Kriegsmythen integrieren. Doch auch hier zeigen sich Brüche und Ambivalenzen: Christoph Strupp zeigt in seinem Beitrag zu Rotterdam eindrucksvoll, wie sich seit Mitte der 1960er Jahre die Friedensbewegung die Erinnerung an den Luftkrieg aneignete, um ihn als historischen Sündenfall für das weltweite Wettrüsten zu reklamieren. Mark Connelly und Stefan Goebel demonstrieren, dass sich auch zur britischen Erinnerung an den Bombenkrieg - und hier besonders zu Coventry - mit einen anspruchsvollen methodischen Instrumentarium immer noch etwas Neues sagen lässt: sie bieten nicht nur eine eindrucksvolle semantische und ikonographische Analyse der Erinnerung an den Luftkrieg in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem Krieg, sondern zeigen für die 1980er Jahre, wie sich die Erinnerung an den "Blitz" zunehmend mit Konsum- und Alltagsgeschichte verkoppelte.
Stefanie Schüler-Springorums exzellenter Beitrag zu einer der Urszenen des Luftkriegs in der baskischen Stadt Guernica während des spanischen Bürgerkriegs ergänzt das Kapitel von Christian Groh zu Pforzheim, Guernicas westdeutsche Partnerstadt, sehr schön. Zusammen zeigen die Beiträge, wie sich Deutsche und Basken über die Städtepartnerschaft als gemeinsame Opfer fühlen konnten. Der Opferdiskurs spielte auch in Österreich eine bedeutende Rolle, allerdings in der Öffentlichkeit erst seit Beginn der 1980er Jahre, wie Katrin Hammersteins Essay zeigt, als konservative Politiker versuchten, den österreichischen Opfermythos zu erneuern, der gesamtgesellschaftlich in die Kritik geraten war. Beiträge zu west- und ostdeutschen Städten differenzieren unser Verständnis vom Entstehen und Wirkens des Opfermythos in Deutschland: Neil Gregor behandelt Nürnberg, Georg Seiderer Würzburg und Ralf Blank das nordrheinwestfälische Hagen. Klaus Neumanns (Halberstadt), Thomas Faches (Dresden) und Jörg Arnolds (Magdeburg) ausgezeichnete Beiträge zeigen, wie sich in der DDR der antifaschistische "Friedenskampf" auf lokaler Ebene mit der Stigmatisierung der skrupellosen anglo-amerikanischen Bomber verband. Besonders überzeugend ist, dass mit den beiden glänzenden Kapiteln von Bas von Benda-Beckmann zu den Narrativen von Bombenkrieg in der ost- und westdeutschen Historiographie und von Susanne Vees-Gulani zu Durs Grünbein auch zwei Arbeiten aufgenommen wurden, welche den Prozess der Transformation von Erzählungen in Geschichte in den Blick nehmen, und dass mit Nicole Kramers Aufsatz ein runder Beitrag zur Ikonographie der "Trümmerfrau" in der Geschichte der Bundesrepublik vorliegt.
Mit seinen einzelnen Teilen und in seiner Gesamtheit stellt dieses Buch einen Meilenstein in der Erforschung der Erinnerung des Zweiten Weltkriegs und in der Analyse von Gewalterfahrungen in ihrer Bedeutung für die europäische Nachkriegszeit dar. Der besseren Lesbarkeit wegen hätte man sich allerdings vollständige Angaben in den Fußnoten gewünscht statt der Kurztitel mit Namen des Autors und Erscheinungsjahr. Insgesamt gilt jedoch: Man findet selten Sammelbände, die sich auf so gelungene Art und Weise die Vorteile des Genres zu Nutze machen und die Nachteile vermeiden. Es ist den Herausgebern und Beiträgern nämlich gelungen, die Tücken einer frei schwebenden Diskursgeschichte der Erinnerungen zu vermeiden, indem sie immer auch die sozialgeschichtliche Verankerung von Erinnerung vor Ort, die personellen Netzwerke zwischen den einzelnen Kommunen und die Materialität der Erinnerungen im Blick behalten. Der Band stellt deshalb auch eine wichtige Erweiterung der collective memory-Forschung dar, da er die Probleme dieses Ansatzes meist elegant umschifft. Nicht zuletzt zeigt das Buch auch, wie produktiv sich an transnationalen Verflechtungen und Tranfers interessierte Zeithistoriker mit der Stadtgeschichte beschäftigen können und wie wichtig ihrerseits die Geschichte der Städte für das Verständnis der Komplexität der europäischen Zeitgeschichte ist.
Bisweilen hätte man sich allerdings weitergehende Erörterungen über das Verhältnis privater Erfahrungen, Erinnerungen von Gewalt und der öffentlichen Darstellung dieser Erfahrungen gewünscht, obwohl dieses Thema in Malte Thiessens ausgezeichnetem Beitrag eigens behandelt wird. Thiessen verweist denn auch auf die Besonderheit der deutschen Erinnerungen und Erfahrungen: denn hier hatte der Krieg eine unheimliche und zerstörerische Präsenz in der Nachkriegszeit - und die Rede vom Opfertum der Deutschen erscheint dann als eine Überlebensstrategie, die den ehemaligen Täter helfen sollte, sich in die neue Zeit hinüberzuretten und Krieg und Gewalt zu verdrängen. Das dauernde Reden über den Krieg scheint in der Tat zum Mythos der alten Bundesrepublik geworden zu sein - und konnte es auch für die Berliner Republik werden. Jeder, der sich für die Geschichte des europäischen Nachkriegs interessiert, sollte deshalb diesen Band gelesen haben. Er zeigt nicht nur die Spuren der Zerstörung empirisch auf, sondern liefert auch konzeptionell gehaltvolle Hinweise darauf, wie westeuropäische Gesellschaften mit dem Erbe von Gewalt umgegangen sind und im materiellen Erbe der Gewalt Geschichten von Zivilität suchen und vielleicht auch finden konnten.
Holger Nehring