Ralf Beil / Regina Stephan (Hgg.): Joseph Maria Olbrich. 1867-1908. Architekt und Gestalter der frühen Moderne, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, 456 S., ISBN 978-3-7757-2549-1, EUR 49,80
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Joseph Maria Olbrich ist neben Peter Behrens allgemein als einer der wenigen herausragenden Architekten der Jugendstilphase in Deutschland um 1900 bekannt. Sein Name taucht vor allem in Verbindung mit der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt auf, für deren Konzeption, Architektur und Gestaltung er zwischen 1900 und 1908 federführend verantwortlich war. Darüber hinaus kennt man natürlich sein Secessionsgebäude in Wien, das er 1899 als kubischen, weißen Tempel für die "Freiheit der Künste" errichtete. Hiermit erschöpft sich aber zumeist das Wissen über das Multitalent Olbrich, der relativ früh und plötzlich, 1908 im Alter von 40 Jahren, an einer Leukämie verstarb.
Der vorliegende opulente Ausstellungskatalog macht es sich daher zur Aufgabe, die vielen bestehenden Wissenslücken zum Œuvre Olbrichs zu füllen und sein Schaffen als herausragender Architekt und Gestalter am Beginn des 20. Jahrhunderts facettenreich darzustellen sowie einige ältere Bewertungen erneut zu hinterfragen. Das Katalogkonzept basiert auf 23 kurzen Aufsätzen verschiedener Autoren und Autorinnen, die sich zu unterschiedlichen Themenkomplexen aus Olbrichs Leben und Werk äußern. Diese werden kombiniert mit dazwischen geschalteten Abbildungen der Ausstellungsobjekte und kurzen Objektbeschreibungen von Ulrich Maximilian Schumann, die gleichsam als Surrogat in die jeweiligen Themenbereiche einführen. Diese Systematik weicht zwar vom klassischen Katalogaufbau mit getrenntem Aufsatz- und Katalogteil ab, ist aber in diesem Fall einer monografischen Gesamtschau des Olbrichschen Werks ganz passend und vor allem kurzweilig zum Lesen und Anschauen.
Alle 23 Aufsatzbeiträge können an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden, daher seien hier nur stellvertretend einige Themen herausgegriffen. Es beginnt mit Ralf Beils Überlegungen zu einer Neubewertung Olbrichs als einem progressiven Architekten der Frühen Moderne, der mit seinem 1906 geäußerten Spruch "Das Haus wird zur Maschine" die Technikfreundlichkeit eines Le Corbusier, und mit dem Entwurf für ein Theateratelier der Künstlerkolonie Darmstadt 1899 die stromlinienförmige Dynamik eines Erich Mendelsohn vorausgenommen hat (23). Werner Durth greift am Ende des Katalogs in seinem Beitrag zur Rezeption Olbrichs bei Bruno Taut, Ernst May, Mendelsohn und Le Corbusier diese Gedanken wieder auf (401). Joseph Imorde kann in seiner Auswertung von Olbrichs italienischen Reisestudien nachweisen, dass die bisher gängige Herleitung der kubisch-einfachen Formen von Olbrichs Bauten aus der ländlichen Architektur Italiens und Tunesiens zumindest hinterfragt werden muss. Denn Olbrich zeichnete auf seiner Italienreise 1893-1894 vorrangig kirchliche Innenräume des römischen Spätbarock. Dies sollte auch als ein Indiz für Olbrichs vorherrschendes Interesse an formalen Zusammenhängen gelesen werden, frei von jedem theoretischen Überbau, den bis dahin die klassische Studienreise nach Italien und besonders Rom bestimmt hatte (68).
Olbrichs Ideen zu einer Reform des Theaters waren bis jetzt wenig bekannt und sind nun durch Ursula Queckes Beitrag erstmalig ausführlicher vorgestellt worden (189-197). Das temporäre Spielhaus auf der ersten Künstlerkolonie-Ausstellung in Darmstadt sowie die "Darmstädter Spiele" 1901 als Theaterfestival auf der Mathildenhöhe belegen, wie sehr sich Olbrich mit Bühnenräumen sowie den tanz- und theaterreformerischen Ideen der Zeit auseinandergesetzt hat. In diesem Zusammenhang erwähnt Quecke auch die große Rolle der Musik in Olbrichs Schaffen von "Raumpoesien". Einen vermeintlich weitaus profaneren Aspekt behandelt Sandra Wagner-Conzelmann mit ihrem Aufsatz zur Stadt- und Siedlungsplanung Olbrichs (205-211). Sie beruft sich auf das berühmte Zitat zur Mathildenhöhe "Eine Stadt müssen wir bauen, eine ganze Stadt" und analysiert verschiedene Siedlungsplanungen wie die Villenstadt Cobenzl-Krapfenwald bei Wien oder die Gartenstadt Hohler Weg bei Darmstadt. Als Ergebnis zeigt sich aber auch hier, dass Olbrich nicht in erster Linie als Sozialreformer die urbanistischen Richtlinien der modernen Stadt konzipierte, sondern vielmehr als Ästhet und Kritiker der Industrialisierung eine Gegenwelt der Stadtidylle entwarf.
Das Spielhaus, das Olbrich als Haus "en miniature" für die Prinzessin Elisabeth und Tochter seines Auftraggebers und Mäzens Großherzog Ernst Ludwig von Hessen im Park von Schloss Wolfshagen bei Darmstadt errichtete, ist zwar bereits in einer Jugendstil-Publikation vorgestellt worden [1], einem größeren Publikum jedoch nach wie vor nicht bekannt. Katherina Siegmann beschreibt das Kinderhaus ausführlich und dokumentiert es durch historische sowie aktuelle Fotos (226-239). Ebenfalls bisher kaum in dieser Zusammenstellung veröffentlicht, erscheinen in dem Beitrag von Paul Sigel die Bauten und Räume, die Olbrich zu den internationalen Ausstellungen in Paris, Turin und St. Louis von 1900 bis 1904 als Beispiele der Raumkunst des Jugendstils beitrug (243-253).
Dass Olbrich seine Ideen des künstlerischen Gesamtkunstwerks nicht allein auf das Wohnhaus oder das Häuserensemble als Kolonie, sondern auch auf das umgebende Grün und die Natur ausweitete, verdeutlicht Christiane Gelhaar mit ihrem Aufsatz zu Olbrichs Gartengestaltungen (312-319). Haus und Garten gehörten für den Architekten als untrennbare Einheit zusammen, und auch die Gartengestaltung wurde den Prinzipien der Raumkunst mit der Erzeugung von Stimmungen durch den Einsatz von Formen und Farben unterworfen.
Als einziges monumentales Bauwerk Olbrichs, das bis heute, zumindest in seiner äußeren Hülle, noch erhalten ist, stellt Steffen Krämer das Warenhaus Tietz in Düsseldorf vor (362-369). Im Vergleich mit den legendären Kaufhäusern der Jahrhundertwende wie dem Pariser Grand Magasin Bon Marché, Alfred Messels Wertheim oder Bernhard Sehrings Warenhaus Tietz in Berlin schneidet Olbrichs Konzept als gemäßigt progressiv ab, da der Architekt zwar bereits das Stahlskelett mit eingehängten Schaufenstern verwendet, dieses aber noch mit einer repräsentativen und konservativen Steinfassade verkleidet. Die Klassizismen, zu denen Olbrich in seinen letzten Jahren bis 1908 neigte, finden ihren Ausdruck auch in den bekannten Gebäuden auf der Mathildenhöhe Darmstadt, dem Ausstellungsgebäude und dem Hochzeitsturm von 1908. Beim Hochzeitsturm sind es allerdings auch experimentelle, "sprechende" Bauformen, die einen Vorgeschmack auf Expressionismus und Neue Sachlichkeit bieten. Babette Gräfe porträtiert im Vergleich mit dem "Meisterarchitekten" Olbrich seinen "Nachfolger" auf der Mathildenhöhe, den Künstler und Architekten Albin Müller (bekannt vor allem durch seine Gebäude in der Kuranlage Bad Nauheim sowie dem Sanatorium in Braunlage). Er schuf mehrere temporäre Ausstellungsgebäude auf der "Hessischen Landesausstellung" 1908 in Darmstadt sowie 1914 das Löwentor, die Brunnenanlage und den Schwanentempel während der "Künstlerkolonie-Ausstellung" auf der Mathildenhöhe. Albin Müller selbst erkannte aber bereits, dass er die "Leichtigkeit" und das "Sonnige", das von Olbrichs Kunstwerken ausging, niemals würde erreichen können.
Den abschließenden Teil des Katalogs bilden eine Biografie, das Verzeichnis der abgebildeten Werke Olbrichs, eine Bibliografie sowie ein umfangreiches Register. Insgesamt wird hiermit eine üppige und sehr informative Zusammenschau des Werks von Joseph Maria Olbrich geliefert, die neben dem ansprechenden Präsentieren von bereits Vertrautem auch viele bis jetzt wenig bekannte Arbeiten und Ideengebäude des Künstlers vorstellt. Der Versuch, das Genie Olbrich als "Gesamtkunstwerk" zu veranschaulichen, ist gelungen.
Anmerkung:
[1] Stefanie Lieb: Was ist Jugendstil? Eine Analyse der Jugendstilarchitektur 1890-1910. Darmstadt 1999, 2 2010, 174-176.
Stefanie Lieb