Philip Nord: France's New Deal. From the Thirties to the Postwar Era, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2010, 474 S., ISBN 978-0-691-14297-5, USD 39,50
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Die Konstruktionen französischer Modernität im 20. Jahrhundert, die ihnen zugrunde liegenden politischen Konzeptionen ebenso wie das damit verbundene Spannungsfeld gesellschaftlicher Erfahrungen, sind in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Forschung geraten. [1] Auch die an der Universität Princeton entstandene Studie des Historikers Philip Nord ist in diesem Kontext zu sehen, wenngleich sich ihre Zielsetzung eher auf die älteren modernisierungstheoretischen Debatten in der amerikanischen Historiographie bezieht. [2] Sie sucht nach den Entstehungszusammenhängen der französischen Modernisierungspolitik und nimmt dafür die technokratischen Projekte einflussreicher Elitenzirkel von der Zwischenkriegszeit bis in die frühen 1950er Jahre in den Blick. Innerhalb dieses längeren Zeitraums soll insbesondere die Bedeutung des "liberation moment" (144) und der aus ihm hervorgehenden Vierten Republik erfasst werden, die zwischen der Aufarbeitung des Erbes von Vichy und der Fokussierung auf die gaullistische Reformpolitik in der Forschung nicht selten in den Hintergrund gerieten oder primär als Bruch mit dem Vorherigen präsentiert wurden. Nur unter Einbeziehung dieser Jahre sei, so Nords Argumentation, die Ausformung des spezifisch "französischen Modells" (19) von Modernität zu verstehen: eines Dritten Wegs des "elitengeleiteten Dirigismus" (231).
Die unmittelbare Nachkriegszeit sieht Nord als tragenden Baustein dieses Modells an. In ihr entstand ein Set nationaler Institutionen in den Bereichen von Sozial- und Bevölkerungspolitik, Verwaltung und Kultur, das die nachfolgenden Modernisierungsleistungen erst ermöglichte. Dazu zählten das "Commissariat général au Plan", die "École nationale d'administration" (ENA), das "Institut national de la statistique et des études économiques" (INSEE) oder das "Institut national d'études démographiques" (INED), deren Gründungsgeschichten Nord in den Blick nimmt. Vor allem aber ist es die Entstehung eines "Kulturstaates" (311) in Frankreich nach 1945, die ihn interessiert und dem er etwa die Hälfte seiner Untersuchung widmet. In der analytischen Verbindung der Kulturpolitik mit anderen Bereichen staatlicher Modernisierung liegt ein besonderes Verdienst dieser Untersuchung, die kulturelle Phänomene damit aus dem Hinterhof "weicher" Geschichtsschreibung befreit und mit "härteren" gesellschaftlichen Trends in Beziehung setzt. In seinen aufschlussreichen, streckenweise allerdings allzu detailkundigen und exkursorischen Ausführungen legt der Autor dar, wie unter der Zielsetzung einer "Kultur der Qualität" (215) staatliche Institutionen und administrative Eliten in den Bereichen Theater, Film und Funk tätig wurden und diese als Elemente einer erneuerten nationalen Identität umgestalteten.
Der Autor ist sich bewusst, dass dabei das Ende des Zweiten Weltkrieges, wie auch in anderen europäischen Ländern, keine "Stunde Null" darstellte. Vielmehr sind die konzeptionellen Überlegungen und institutionellen Gründungen der Befreiungszeit in der längeren Kontinuität der 1930er bis 1950er Jahre zu sehen. Hierfür zieht Nord unter Rezeption japanischer Debatten die Bezeichnung "transwar" (12) heran, welche die längere Phase von der Zwischenkriegs- bis in die spätere Nachkriegszeit als erfahrungsgeschichtliche Einheit betrachtet. Die modernisierungspolitischen Interventionen werden so erst in ihrer Verbindung mit den vorangegangenen Krisenerfahrungen verständlich, denn die Handlungsstrategien führender Modernisierer entstanden nicht erst nach 1945. INSEE und INED waren nicht denkbar ohne den "Service national des statistiques" (SNS) oder die "Fondation Carrel", das "Centre national de la cinématographie" (CNC) nicht ohne das "Comité d'organisation des industries cinématographiques" (COIC) der Vichy-Regierung. Die diese Institutionen tragenden Eliten waren in den aufgewühlten Jahren der Dritten Republik sozialisiert worden, in den Planungsdiskursen der frühen 1930er Jahren, den Reformprojekten der Volksfrontzeit und im Etatismus Vichys. Ihre Wege waren verschlungen und uneindeutig; sie führten überzeugte Pétainisten über die Konversion zur Résistance in die gaullistische Administration, wo sie auf ehemalige Kommunisten trafen.
Folgt man der Argumentation Nords, so war die Befreiungszeit trotz solch institutioneller wie personeller Kontinuitäten aber jener Moment innerer Staatsbildung (15), in dem ein Amalgam der verschiedenen Denktraditionen und Erfahrungen entstand, das die Fronten von rechts und links, von Katholizismus und Kommunismus überlagern konnte und damit das Gesicht des modernen Frankreichs prägte. Doch zugleich wird in seinen Analysen immer wieder die Bedeutung der längeren Chronologie ersichtlich, die auch frühere Forschungen bereits festgestellt haben. [3] Insofern ist Nords Position nicht ohne Widersprüche, und die spezifische Bedeutung der Nachkriegsjahre wird letztlich eher behauptet als erklärt. Nuanciert und erweitert wird hingegen das Profil der Technokraten und Nonkonformisten der 1930er Jahre und ihres - bisher kaum beachteten - auch kulturellen Projektes. Die Betitelung als französischer "New Deal" wirkt allerdings etwas aufgesetzt, zumal der Begriff im Verlauf der Studie analytisch nicht gefüllt wird. Das ist bedauerlich, denn hier wurde eine vielversprechende Chance zur Öffnung des französischen Falls für vergleichende Überlegungen vertan. Zwar gab die Aufbruchstimmung der Befreiungszeit den Nationalisierungs- und Planungsvorhaben kurzfristig einen sozialistischen Anklang, doch konturiert sich das staatszentrierte französische Modernisierungsprojekt bei Nord letztlich doch eher als ein konservatives (24).
So wäre noch zu präzisieren, was die ausgewählten Felder zusammenhält und worin die angenommene Agenda der untersuchten Eliten in den Bereichen von Sozial-, Bevölkerungs-, Wirtschafts- oder Kulturpolitik bestand. "Modernisierung" erscheint in der Studie recht allgemein als Form der Überwindung des Bisherigen und der organisatorischen Erneuerung. Dies ist insofern anregend, als es die Deutungsoffenheit von Modernitätserfahrungen und -konzeptionen abbildet und damit den zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen vermutlich durchaus nahekommt. Da dies allerdings nicht explizit reflektiert wird, wirkt die Gestalt des "modernen" Frankreichs, dessen Entstehungsgeschichte hier erzählt wird, seltsam verschwommen. Dennoch stellt Nords Studie eine anregende Forschungsleistung dar, da sie die Frage nach der Konstruktion einer französischen Modernität auf neue Weise und jenseits der ausgetretenen Pfade nationalhistorischer Narrative stellt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Überblicke bei Moritz Föllmer: Modernität im Frankreich des 20. Jahrhunderts. Sozial- und kulturhistorische Forschungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), 405-435, sowie Herrick Chapman: Modernity and National Identity in Postwar France, in: French Historical Studies 22 (1999), Nr. 2, 291-314.
[2] Grundlegend Stanley Hoffmann u.a.: In Search of France, Cambridge 1963. Vgl. auch Ingo Kolboom: Wie modern war die Dritte Republik? Von der "Zerstörung der republikanischen Synthese" zur Revision der "blockierten Gesellschaft", in: Hartmut Elsenhans u.a. (Hgg.): Frankreich - Europa - Weltpolitik. Festschrift für Gilbert Ziebura, Opladen 1989, 61-72.
[3] Insbesondere Richard F. Kuisel: Capitalism and the State in Modern France. Renovation and Economic Management in the Twentieth Century, Cambridge u.a. 1981.
Stefanie Middendorf