Rezension über:

Andreas Schmauder / Jan-Friedrich Missfelder (Hgg.): Kaftan, Kreuz und Kopftuch. Religiöse Koexistenz im urbanen Raum (15.-20. Jahrhundert) (= Stadt in der Geschichte; Bd. 35), Ostfildern: Thorbecke 2010, 340 S., ISBN 978-3-7995-6435-9, EUR 29,00
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Rezension von:
Görge K. Hasselhoff
Käte Hamburger Kolleg "Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa", Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Görge K. Hasselhoff: Rezension von: Andreas Schmauder / Jan-Friedrich Missfelder (Hgg.): Kaftan, Kreuz und Kopftuch. Religiöse Koexistenz im urbanen Raum (15.-20. Jahrhundert), Ostfildern: Thorbecke 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 4 [15.04.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/04/15839.html


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Andreas Schmauder / Jan-Friedrich Missfelder (Hgg.): Kaftan, Kreuz und Kopftuch

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Der vorliegende, auf Hochglanzpapier gedruckte Band geht auf eine Tagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung vom November 2005 zurück. Die Grenzen Südwestdeutschlands werden jedoch weit überschritten. Dem Band liegt, wie Mißfelder in seiner Einführung festhält, die Annahme zugrunde, dass "[r]eligiöse Koexistenzkonflikte [...] zugleich die politischen und ökonomischen Machtverhältnisse in urbanen Gesellschaften" thematisieren (7-17, hier 9). Entsprechend werden in vier sehr unterschiedlichen Sektionen unterschiedliche Beziehungsgeflechte untersucht.

Die erste, nur zwei Beiträge umfassende Sektion untersucht die "Jüdisch-christliche Koexistenz" im Schwaben des 15. und 16. Jahrhunderts. Stefan Lang nimmt die Ravensburger Ritualmordbeschuldigung von 1429/30 samt ihren Vorläufern und Auswirkungen (Vertreibung der Juden und Ende eines jüdischen Lebens im Bodenseeraum bis weit in die Neuzeit hinein) in den Blick (21-64). Robert Jütte geht dem antijüdischen Motiv einer ein Ferkel werfenden Jüdin ausgehend von einer Fallgeschichte aus Binswangen nach (65-84). Beide Autoren verdeutlichen das Nichtgelingen religiöser Interaktion.

Die zweite Sektion wendet sich dem "Laboratorium Venedig" zu. Ermanno Orlando gibt einen umfassenden, italienischsprachigen Überblick über religiöse Minderheiten und "interreligiöse" Ehen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Italien und im Veneto (87-143; mit einer deutschsprachigen, wenngleich terminologisch unsicheren Zusammenfassung von Monika Küble, 145-154). Im Fokus stehen dabei Christen verschiedenster orientalischer Konfessionen, aber auch Marranen (christlich getaufte, "heimliche" Juden) und Juden, denen die Ehe mit Christen im Trienter Konzil verboten wurde. Als Handelsstadt wies Venedig eine Vielzahl muslimischer Kaufleute, aber auch Flüchtlingen nach der Eroberung Konstantinopels auf. Claudia Naumann-Unverhau skizziert das daraus resultierende "Türkenbild" (155-165). Monica Lienin untersucht die beiden Fassungen der "Historia de' Riti Hebraici" Leon Modenas hinsichtlich etwaiger Spuren christlichen Einflusses auf dessen Darstellung des Judentums (167-187).

Der dritte Teil des Bandes behandelt die "Konfessionelle Koexistenz", das heißt innerchristliche Beziehungen in deutschsprachigen Gebieten von der Reformation bis zum 18. Jahrhundert. Urs B. Leu macht den Anfang mit einer Beschreibung von "Aspekten religiöser Intoleranz" im Zürich der ersten Reformationsjahre, die ihre Ursache in einem Rückgang auf das Alte Testament gehabt haben soll (191-212, vgl. hier 203). Rainer Babel zeigt auf, dass im praktischen Vollzug das intrareligiös-christliche Zusammenleben in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert tendenziell eher auf eine Koexistenz und den Versuch von Konfliktlösungen denn auf einen Konflikt hindeute (213-224). Andreas Schmauder nimmt den Sonderfall der Reichsstadt Ravensburg in den Blick, in dem nach der Hinwendung zur Reformation eine altgläubige Minderheit in gleichen Rechten belassen wurde (225-239). Eberhard Fritz zeigt Netzwerke innerhalb der radikalpietistischen Bewegung im schwäbischen Raum als Gegenbewegung zum institutionalisierten Kirchentum auf (241-261).

Die vierte Sektion soll die "Christlich-muslimische Koexistenz" thematisieren. Am Anfang steht ein englischsprachiger Beitrag von James S. Amelang über zum Schein zum Christentum konvertierte Juden und Muslime im frühneuzeitlichen Spanien, der Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede in der Betrachtung und Selbstwahrnehmung beider ethisch-religiöser Gruppen nachgeht (265-280). Astrid Meier zeigt auf, dass im ausgehenden 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Damaskus und anderen Orten Syriens das Alltagsleben der drei Hauptreligionen Islam, Christentum und Judentum weitgehend geordnet vonstatten ging; wichtiger als die Religion erwies sich hierbei unter anderem der ökonomische Faktor (281-303). Dem 20. und beginnenden 21. Jahrhundert wenden sich die letzten beiden Beiträge zu: Imke Sturm-Martin analysiert den Einfluss einer muslimischen Orthodoxie in England auf die Nichtintegration einer muslimischen Unterschicht (305-319), während Harald Suermann den schwindenden Einfluss einer schrumpfenden christlichen Bevölkerung auf das zunehmend muslimische Alltagsleben in Betlehem skizziert (321-339). Eine Autorenübersicht beschließt den Band (340).

Aus dem Überblick dürften Stärken und Schwächen dieses Bandes schon deutlich geworden sein. Eine Stärke liegt zweifelsohne in seiner geografischen und thematischen Weite. Zugleich liegt darin aber auch seine Schwäche: Die Auswahl der Regionen ist kontingent. Warum Venedig als "Laboratorium" auch sektional hervorgehoben wird, gleichzeitig die Levante jedoch eher marginalisiert erscheint, wird nicht recht deutlich. Dass der Herausgeber auf die Schwierigkeit des Begriffs "Toleranz" verweist und deswegen den Ausdruck "Koexistenz" präferiert (vgl. 14), ist nachvollziehbar, warum er jedoch nicht auch auf die zutage tretenden Schwierigkeiten der Verwendung des Begriffsfeldes des Religiösen eingeht, wird nicht deutlich. Gerade hier jedoch werden die Schwierigkeiten augenfällig, wenn das Christentum anscheinend als Maßstab fungiert (vgl. Teil III!), während das Judentum in den Teilen II und IV nur unter "Laboratorium" bzw. "Islam" subsumiert wird. Darüber hinaus findet auch eine jüdisch-islamische Interaktion statt, die unterrepräsentiert zu sein scheint.

Görge K. Hasselhoff