Christa Lichtenstern: Henry Moore. Werk, Theorie, Wirkung, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, 471 S., ISBN 978-3-422-06717-2, EUR 68,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Anabelle Kienle: Max Beckmann in Amerika, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2008
Caroline A. Jones: Eyesight Alone. Clement Greenberg's Modernism and the Bureaucratization of the Senses, Chicago: University of Chicago Press 2006
Jonathan Huener / Francis R. Nicosia (eds.): The Arts in Nazi Germany. Continuity, Conformity, Change, New York / Oxford: Berghahn Books 2006
Wie kaum ein zweiter Künstler konnte Henry Moore neben Pablo Picasso im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Inbegriff des modernen Künstlers fungieren, dessen Werke paradigmatischen Charakter besaßen. Vor allem in Deutschland setzte nach dem Zweiten Weltkrieg früh eine erneute Rezeption ein - der vorausschauende Museumsdirektor Max Sauerlandt erwarb bereits in den frühen 1930er-Jahren eine kleine Moore-Skulptur. Der Bildhauer figurierte prominent auf der zweiten documenta 1959 und die Übersetzung und Kommentierung der Schriften und Werke Moores durch Werner Hofmann erschien im selben Jahr in der Reihe Bücher des Wissens in der Fischer Bücherei. [1] Besonders aber die Initiative des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt, eine Skulptur Henry Moores im Garten des alten Bonner Bundeskanzleramtes aufzustellen, hatte Signalwirkung und bedeutete 1979 doch zugleich das Ende einer Ära der jüngeren Kunstgeschichte mit neuen und zum Teil gänzlich anderen Formen der öffentlichen Skulptur. Die Bonner Two Large Forms (1979) war damals jedem politisch interessierten Zeitgenossen durch den Bericht aus Bonn des Fernsehens präsent, selbst wenn er nicht zu sagen wusste, von wem das Kunstwerk stammte, und wurde von der kritischen Kunstgeschichtsschreibung als "Allegorie des Sozialstaates" gedeutet, wobei sich politisch-gesellschaftliche Verfasstheit und ästhetischer Modernismus verschränken. [2]
Christa Lichtenstern, die bereits 1994 eine vorbildliche Werkanalyse zu einem Hauptwerk Moores vorgelegt hat [3], errichtet dem britischen Künstler nun ein Denkmal in Form eines Buches. Ihre auch auf Englisch vorliegende, umfangreiche Monografie ist ein Standardwerk und wird die weitere Rezeption des heute bei jüngeren Kunstgeschichtsstudenten weitgehend unbekannten Moore vielleicht wieder in Gang bringen. Bei zeitgenössischen Bildhauern ist Moore hingegen weiterhin präsent, wie allein schon das kurze Vorwort Tony Craggs als Einstieg in den voluminösen Band belegt.
Lichtenstern hat ihre Studie in drei ungleichgewichtige Teile geordnet, die Werk (ca. 220 Seiten), Theorie (ca. 40 Seiten) und Wirkungsgeschichte (ca. 120 Seiten) umfassen. Dabei verfährt die Autorin zunächst chronologisch, wenn sie die modernen und "primitiven" Einflüsse auf Moore diskutiert und zeigt, wie etwa der Surrealismus Picassos auf Moore einwirkte, sie sich anschließend ausführlich das Thema der liegenden Figur vornimmt und die eindringliche Gruppe der so genannten Shelter Drawings als Reflexion des Zweiten Weltkriegs analysiert. Dann aber geht Lichtenstern auf systematische Aspekte ein, z.B. die Tradition der Antike und ihre Weiterführung bei Michelangelo und deren Reflexion in den Werken Moores. Nach einem Kapitel zum Alterswerk ist es dann die Problematik der "Englishness", die nicht zuletzt im Rückgriff auf Vergleiche mit Stonehenge, mittelalterlichen Illuminationen oder William Blake von der Autorin überzeugend als "irisch-angelsächsische Konstante" (229) herauspräpariert wird. Neben diesen Traditionsbezügen, die einmal antik-humanistischer und einmal englischer Provenienz sind, wird dann der Bezug zu Rodin als kürzerer modernistischer Strang beleuchtet, wobei dieser "Versuch einer skulpturgeschichtlichen Ortsbestimmung" arg knapp ausfällt.
Der Abschnitt zur Bildhauer-Theorie Moores ist vom Umfang ebenfalls relativ bescheiden, gleichwohl substantiell und ein zentraler Baustein innerhalb der Monografie, der wie ein Scharnier zwischen Werkanalyse und Rezeptionsgeschichte eingepasst ist und von anderer Seite das von Lichtenstern als zentrale Intention Moores benannte Konzept der "humanity of form" (283) umkreist. Vier von ihr analysierte Aufsätze des Bildhauers, die bereits aus den 1930er-Jahren stammen, enthalten seine bildhauerischen Vorstellungen bereits im Kern. Zentrale Begriffe wie Materialgerechtigkeit, auch wenn sie denn in den 1950er-Jahren teilweise fallengelassen wird, Offenheit, Vollräumlichkeit oder Varietät sind hier als solche oder Konzepte bereits artikuliert. Vor allem die Raumproblematik steht im Vordergrund, wenn Lichtenstern das Verhältnis von Höhle, Loch und Zwischenraum als "dialogische Form-Raum-Konzeption" beschreibt und darauf hinweist, dass Moore die Tendenzen zur Reduktion des Massevolumens und der Immaterialisierung ebenso negiert wie die Tendenz zur "unbedingte[n] Bindung an die Greifbarkeit des Ortes". (260) Moores bildnerische Position scheint angesichts der Vermittlung der Extreme beinahe politisch konnotiert: "Es ist die Mitte: Universalität der rhythmisierten Raumgestaltung, eingebettet in das Hier und Jetzt eines organischen Formgeschehens. Mitte im Erschließen eines Raum-Dialoges im Loch, im Gespräch von Innen und Außen und im Miteinander von Form und Raum." (ebd.) Dennoch besitzen spezifische Verfahren Moores wie dismemberment (Zergliederung in Form gezielter Raumschnitte) oder distortion (Verzerrung der Figur zur Generierung von Raum) formal radikale Züge.
Es gehört zu den zentralen Verdiensten der Darstellung, dass Lichtenstern als letzten Teil ihrer Arbeit die Rezeption Moores exemplarisch vor Augen führt, denn nicht zuletzt hier zeigt sich die herausragende Stellung des Künstlers innerhalb der Skulptur des 20. Jahrhunderts, die sich auf dieser Ebene mit der Bedeutung Picassos vergleichen lässt. Zugleich stellt die Verfasserin fest: "Henry Moores globale Wirkung vollzog sich in keinem Land auf so vielschichtige Weise wie im zweigeteilten Deutschland." (321) Lichtenstern stellt für Westdeutschland KünstlerInnen wie Karl Hartung, Bernhard Heiliger, Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff und Toni Stadler als Rezipienten Moores vor, die vor allem an der biomorph-abstrakten Seite des Briten interessiert gewesen seien; ausgesprochen erhellend ist allerdings die ostdeutsche Rezeption (321-348), wobei sich das kunstkritische Bild Moores vom "Feind" zum "Erblasser" und zum "sozialistischen Weggefährten" wandelte und hier die gegenständlich-abbildhafte Seite Moores im Vordergrund stand. Fritz Cremer, Theo Balden, René Graetz oder Wieland Förster werden von der Autorin in diesem ersten Überblick nicht nur auf der Ebene der Skulptur sondern teilweise auch der Zeichnung angesprochen. Angestoßen ist damit eine wichtige Fragestellung zur deutschen Kunstgeschichte nach 1945, die auch in die Bereiche einer kulturpessimistischen oder antidekadenten Modernekritik ausgelotet werden könnte, in jedem Fall aber aufgenommen und weitergeführt werden sollte.
Die vorgelegte, reich bebilderte und anschaulich geschriebene Monografie erweckt Moore zu neuem Leben und macht deutlich, dass es sich um einen wieder zu entdeckenden Giganten der Kunst des 20. Jahrhunderts handelt, dessen Ansätze und Auffassungen für ein Verständnis moderner Skulptur unabdingbar sind. Man sollte Moore aber auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildhauerei im Gedächtnis haben.
Anmerkungen:
[1] Henry Moore: Schriften und Skulpturen, hg. und eingeleitet von Werner Hofmann, Frankfurt/M. 1959.
[2] Silke Wenk: Henry Moore. Two Large Forms. Eine Allegorie des modernen Sozialstaates, Frankfurt/M. 1997.
[3] Christa Lichtenstern: Henry Moore. Zweiteilig Liegende I. Landschaft wird Figur, Frankfurt/M. / Leipzig 1994.
Olaf Peters