Jeremy Smith / Melanie Ilic (eds.): Khrushchev in the Kremlin. Policy and government in the Soviet Union, 1953-1964 (= BASEES/RoutledgeCurzon Series on Russian and East European Studies; No. 73), London / New York: Routledge 2010, XX + 249 S., ISBN 978-0-415-47648-5, GBP 90,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Mari Olsen: Soviet-Vietnam Relations and the Role of China, 1949-64. Changing alliances, London / New York: Routledge 2006
Harald Stadler / Martin Kofler / Karl C. Berger: Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol, Innsbruck: StudienVerlag 2005
Ines Reich / Maria Schultz (Hgg.): Sprechende Wände. Häftlingsinschriften im Gefängnis Leistikowstraße Potsdam, Berlin: Metropol 2015
Seit längerem befasst sich die Forschung intensiv mit der Frage nach der tatsächlichen Reichweite der Destalinisierung Chruščevs. In diese Richtung zielte auch ein mehrjähriges Forschungsprojekt des Zentrums für Russische und Osteuropäische Studien an der Universität Birmingham. Die erste Publikation aus dem Projekt, 2009 erschienen, lotete das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat im Post-Stalinismus aus. [1] Der vorliegende Sammelband schließt die Forschungen ab. Ihm geht es um eine Verortung der Führungspersönlichkeit Chruščev in der sowjetischen Geschichte nach Stalin. Diskutiert werden anhand von Fallstudien zu Herrschaftsstrukturen und zur Wirtschaftspolitik vor allem die Ziele und Grenzen des politischen Reformwillens Chruščevs. Der Aufsatz über den Umgang mit der politischen Dissidenz wirkt unter diesen Beiträgen isoliert. Die hier präsentierten Befunde gehen zudem nicht substantiell über die Erkenntnisse hinaus, die bereits im ersten Band dargelegt wurden. In der Gesamtheit überwiegen jedoch Arbeiten, die wichtige neue Perspektiven mit analytischer Tiefenschärfe verbinden. Eingangs verweist Jeremy Smith auf das Unvermögen Chruščevs, bei ernst gemeinten Reformenprojekten "genügend Menschen mit ausreichendem Enthusiasmus mitzunehmen", (8). Dieser Befund stellt nicht nur die Bilanz des Gesamtprojekts dar, sondern eröffnet auch passim gleich weitere Forschungsperspektiven auf dessen Ära, die das Verhältnis von Führungsspitze, Partei- und Staatsapparat und Gesellschaft ausdifferenzieren.
Der einleitende Essay von Ian D. Thatcher über "Khrushchev as leader" (9-25) bietet als konziser Forschungsbericht eine angemessene Grundlage für die folgenden Beiträge. Allerdings fällt bei ihm wie bei den anderen Autoren eine Vernachlässigung von nicht-russisch- bzw. nicht-englischsprachiger Forschungsliteratur auf. Für die diskutierte Thematik wäre eine Einbeziehung beispielsweise der Erkenntnisse von Matthias Uhl oder Klaus Gestwa zur sowjetischen Technikgeschichte gewinnbringend gewesen. [2] Schließlich bleibt ein letztes Manko der ganzen Publikationsreihe zu beklagen: Ein Preis von 150 US-Dollar ist für ein Werk, das aus einem öffentlich geförderten Forschungsprojekt hervorgeht, nicht nachvollziehbar.
Doch zurück zu den Inhalten: Mitrokhin, Titov und Smith thematisieren die komplexen Führungsmechanismen in der Sowjetunion nach Stalin. Persönlicher Netzwerke konnte sich auch Chruščev hervorragend bedienen; er hatte sie seit den 1930er Jahren sorgsam gepflegt. Ob man die vorrangig regional bzw. fachlich definierten Gruppen als Klan bezeichnen möchte, sei dahingestellt (26). Es wird sich erst noch zeigen müssen, inwieweit der Begriff zur Analyse nicht nur von Genese und Kohärenz, sondern auch zur Untersuchung von Belastbarkeit und Zerfall derartiger Gruppen beitragen kann. Chruščevs Personalpolitik war mit einer politischen Programmatik verbunden. Titov interpretiert die Änderungen im ZK-Apparat als Reflexion allgemeiner Bemühungen, einer wieder belebten Partei die zentrale Rolle in Politik und Gesellschaft zuzuschreiben. Dabei sah sich Chruščev in einer Vielzahl von Politik- und Wirtschaftsfeldern dräuenden Problemen gegenüber. Die aus dem Stalinismus übernommene Attitüde, Schwierigkeiten lieber durch Kontrolle und Dekrete von oben anstatt durch langwierige Überzeugungsarbeit oder Entfesselung gesellschaftlicher Kräfte zu lösen, führten zur Stärkung der Parteibürokratie, ein Prozess, er unmittelbar in die Verknöcherung des Gesamtsystems unter Brežnev überging. Chruščevs politische Weggenossen erhielten sich ihre zentralen Machtstellungen, ohne die Reformziele des Parteichefs in aller Konsequenz zu teilen. Kurzfristig führte diese Divergenz zum Sturz Chruščevs. Auf Dauer hätte die Spannung zwischen den Motiven und Zielen einer zentralen Führungsinstanz auf der einen und der Eigendynamik der mit ihr verwobenen, aber bis zu einem gewissen Grad selbständig agierenden Führungsriegen den Zusammenhalt des Parteistaats selbst gefährdet. Der instruktive Beitrag von Jeremy Smith diskutiert diese Problematik am Beispiel der nationalen Führungskader in den 1950er Jahren (79-93); sie spielte auch im Moskauer Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten ihre Rolle (Katalin Miklóssy). Die Untersuchungen von Nataliya Kibita und Valery Vasiliev legen nahe, dass die grundlegenden machtstrukturellen Probleme die Lösung der immensen Herausforderungen in der Wirtschaftspolitik zusätzlich erschwerten. Der Bereich der Wirtschaftspolitik war ein wesentlicher Schwerpunkt Chruščevscher Reformtätigkeit. Mehrere Beiträge diskutieren hier die Leistungskraft des sowjetischen Systems sowie seine grundsätzliche Reform- und Innovationsfähigkeit. Die Bewertungen der Autoren variieren: Autio-Sarasmo stellt die Kontinuität sowjetischer Versuche heraus, in der Wirtschaftskooperation mit ausländischen Staaten vor allem Informationen und Technik zu erhalten, während Davies und Ilic in diachron angelegten Studie zur Baupolitik der 1930er und 1950er Jahre deutliche Unterschiede herausarbeiten. Anhand eines Vergleichs des Eisenbahnwesens in der UdSSR und in Großbritannien führt John Westwood vor Augen, dass die sowjetische Modernisierungspolitik nicht a priori und zwangsläufig allen westlichen Praktiken unterlegen war. Für Oleg Khlevniuk belegen die bewusst gefälschten Erfolgsmeldungen in der Landwirtschaft, dass systemische Widersprüche und Fehlkonstruktionen der sowjetischen Wirtschaftskraft enge und im Rahmen des Systems unüberwindbare Grenzen setzten. In der Summe der Beiträge trägt diese Gesamtschau wesentlich zur Ausdifferenzierung des Blicks auf komplexe Entwicklungen der sowjetischen Geschichte bei, die sich weder als unausweichliche Geschichte eines Niedergangs noch als starres Kontinuum mit überraschendem Ende begreifen lässt.
Anmerkungen:
[1] Melanie Ilic / Jeremy Smith (eds.): Soviet State and Society Under Nikita Khrushchev (= BASEES / RoutledgeCurzon Series on Russian and East European Studies; Vol. 57), London / New York: Routledge 2009.
[2] Matthias Uhl: Stalins V-2. Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959, Bonn 2001; Klaus Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948-1967, München 2010.
Andreas Hilger