Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts: Über das Lebensrecht des Bildes, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011, 463 S., ISBN 978-3-518-58516-0, EUR 39,90
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Ausgehend von einem Zitat des Renaissance-Künstlers Leonardo da Vinci beschäftigt Horst Bredekamp sich in seinem neuen Buch mit der den Bildern innewohnenden Kraft. "Leben" und "Lebendigkeit" sind die Schlüsselworte des Buches. Auch ist häufig die Rede von der "enárgeia" der Werke und von ihrer "Präsenz". Bredekamps zentrale These lautet: Bilder sind weniger Objekte als vielmehr Subjekte. Sie sind selber in gewissem Sinne Akteure, Handelnde. In der hier schon deutlich werdenden Vorsicht in der Wahl der richtigen Begriffe zeichnet sich natürlich genau das Problem ab, das es zu lösen gilt: Woher kommt die den Bildern innewohnende Kraft? Wie lässt sie sich beschreiben? Wie vermag diese Kraft es, in die Außenwirkung des Denkens, Fühlens und Handelns überzugehen? Lässt sich den Bildern eine Eigenkraft zuschreiben? Oder sind es die Aktivitäten des Rezipienten, die den Bildakt konstituieren?
Diesen angesichts der Fülle der täglich zu sehenden Bilder in der Tat akuten Fragen widmet das Buch sich in insgesamt sechs Kapiteln. Nach einer Einleitung werden im ersten Kapitel ("Ursprünge und Begriffe") Platons Bildtheorie, Heideggers Ästhetik und Lacans Theorie des Blicks in knapper Form auf ihre Verwendbarkeit für eine Theorie des Bildakts hin überprüft, dann das Verhältnis von Sprechakt und Bildakt kurz dargelegt. Letzteres erfährt ein Echo im zweiten Kapitel ("Werkaussagen als Zeugnisse der Theorie"), das der Analyse verschiedener Formen der Selbstäußerung von Werken gewidmet ist. Es folgen drei Kapitel, in denen der Bildakt unter verschiedenen Attributen ("schematisch", "substitutiv", "intrinsisch") anhand von zahlreichen Beispielen (Bildern, Skulpturen und anderen visuellen Medien) aus unterschiedlichen Kulturen von der Prähistorie bis zur Gegenwart differenzierter gefasst wird. Ein Kapitel zum Verhältnis von Bild und Evolution ("Die Natur des Bildakts") beschließt den Band.
Der Quell des zur Verfügung stehenden Bildmaterials ist überreich. Um eine Auswahl zu treffen und diese zu begründen, bezieht Bredekamp sich vor allem auf das erwähnte Zitat von Leonardo. In ihm wendet sich ein verhülltes Werk an einen potentiellen Betrachter mit den Worten: "Nicht enthüllen, wenn dir die Freiheit lieb ist, denn mein Antlitz ist Kerker der Liebe." (17) Das Zitat überrascht in seiner latenten Gewalttätigkeit. Doch die Wirkkraft des Bildes ist da. Für Bredekamp artikuliert sich in Leonardos Spruch eine der "tiefgründigsten Aussagen", die jemals über die den Bildern innewohnende Kraft getroffen worden seien (ebd.). Wenn nun Leonardo im Laufe der Studie immer wieder mit diesem Zitat als "Kronzeuge" (165) für alle möglichen Verfahren des Bildakts in den Zeugenstand gerufen wird, dann geschieht das wohl auch deshalb, weil die Entwicklung einer möglichen Theorie des Bildakts methodisch nicht im Zentrum der Studie steht.
So geht es in dem Theorieteil ("Ursprünge und Begriffe") erkennbar nicht darum, Begriffe zu gewinnen, die sich für die nachfolgenden Bildbeschreibungen produktiv machen ließen. Das darauffolgende Kapitel über den "schematischen Bildakt" fängt dann auch praktisch wieder bei null an. Es handelt laut Untertitel von der "Lebendigkeit" des Bildes. Später ist von "Verlebendigung" die Rede (173). Jeder mag für sich selbst entscheiden, was gemeint ist. Fest steht jedenfalls, dass der durch das Leonardo-Zitat erhobene Anspruch so hoch ist, dass ihn die meisten der gewählten Bilder (zum Glück) kaum erfüllen können. In sachlichen Bildbeschreibungen werden Artefakte vorgestellt wie etwa lebende Bilder (tableaux vivants), eine Automatenfigur aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, Fritz Langs Androidin aus Metropolis von 1925/26 oder eine Performance von Michael Jackson. Der Anziehungskraft der Androidenfrau können sich die gezeigten filmischen Figuren kaum entziehen, und Jacksons Performance wird sogar eine "magnetische" Präsenz attestiert (138). Die Folge: Es zeichnet sich eine Intensitätsdifferenz ab, die allerdings eher wirkungsästhetisch konzeptualisiert zu sein scheint. Die Frage, welches neue Licht denn eigentlich auf die Eigenkraft der Bilder geworfen wird, ließe sich wohl erst durch Entwicklung eines detaillierteren Vokabulars der Beschreibung umfassender beantworten.
In dem Kapitel, das dem substitutiven Bildakt gewidmet ist, geht es um den Austausch von Körper und Bild. Thema sind etwa Bestrafungen, die an Bildern anstelle von Personen vollzogen werden. Es werden neben zahlreichen Bildern aus der Renaissance auch aktuelle ausgewählt wie jene aus Abu Ghraib. Dabei stellt sich Bredekamp der Herausforderung, die beiden Sphären von Körper und Bild so eng zu führen, dass sie häufig fast ununterscheidbar werden. Gerade hier wird aber besonders deutlich, dass das Fehlen eines differenzierten begrifflichen Instrumentariums es erschwert, die nötigen Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Medien (etwa zwischen Bild und Körper) zu treffen, was einer Erläuterung des Gehalts des substitutiven Bildakts ungewollt eher entgegenwirkt.
In dem Kapitel über den "intrinsischen" Bildakt geht es um die Form als Form. Den Anfang machen die von Bildern ausgehenden Blicke. Die Furcht vor der Blickgefahr des Bildes geht Bredekamp zufolge auf den Mythos der Medusa zurück. Belege für die Blickkraft bieten etwa Werke wie die Kolossalstatue des Kaisers Konstantin, die mittelalterliche Essener Muttergottes oder die Gebilde der Op-Art. Das schlangenumwundene Haupt der Medusa ist eventuell Anlass für den Sprung zu anderen Bildern mit S-förmigen Strukturen. Sie werden etwa gefunden in Zeichnungen des Philosophen Charles Sanders Peirce, in der Architektur Frank O. Gehrys oder im Schlangenritual der Hopi-Indianer. Dazwischen gibt es Reflexionen über die Medialität des Bildakts etwa mit Blick auf Tizians Verwendung der Farbe (vgl. 266f.). Der Bezug zur Natur wird im darauffolgenden, abschließenden Kapitel aufgegriffen und transformiert.
Was den Forschungskontext angeht, diente als Vorbild David Freedbergs 1989 publizierte Studie The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. [1] Freedberg hat wie Bredekamp einen erweiterten Bildbegriff. Aber Bredekamp geht über dieses Vorbild hinaus. Während Freedberg eine Methode anwendet, die in einer Untersuchung der Gebrauchsweisen populärer Bilder wie religiöser Votivbilder besteht, wodurch es ihm - unter weitgehender Ausklammerung von Fragen der Medialität - gelingt, die Anziehungskraft von Bildern als eine sehr direkte, unverstellte Erfahrung zu beschreiben, bezieht Bredekamp in seinen Ansatz nicht nur deutlich mehr Bildmaterial ein, sondern bemüht sich auch um eine Ausdifferenzierung des Ansatzes. Das kommt einer Einbeziehung der medialen Dimensionen des Bildaktes zugute, wie sich etwa in seiner Diskussion der Verwendung der Farbe bei Tizian zeigt. Aus ähnlichen Gründen überschreitet Bredekamp auch den Horizont von Frederika H. Jacobs' grundlegender Studie The Living Image in Renaissance Art (2005). [2] Hinzu kommt, dass er eine systematische Zusammenfassung leistet und damit den gegenwärtigen Stand einer Forschung bündelt, die bislang nur in verstreuten Aufsätzen zu rezipieren war (vgl. etwa die zahlreichen Verweise auf die einschlägigen Publikationen von Frank Fehrenbach wie dessen Aufsatz über "Kohäsion und Transgression"). [3] Insgesamt betrachtet hat man es hier sicherlich mit einem Buch am Puls der Zeit zu tun. Wobei es der Größe der Herausforderung entspricht, dass es nicht der Abschluss, sondern erst der Anfang eines Theorieprojekts ist, dessen vertiefende Ausarbeitung man sich wünschen muss.
Anmerkungen:
[1] David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago / London 1989.
[2] Frederika H. Jacobs: The Living Image in Renaissance Art, Cambridge 2005.
[3] Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: Ulrich Pfisterer / Anja Zimmermann (Hgg.): Animationen / Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, 1-40.
Jennifer Bleek