Heilwig Gudehus-Schomerus / Marie-Luise Recker / Marcus Riverein (Hgg.): »Einmal muß doch das wirkliche Leben wieder kommen!«. Die Kriegsbriefe von Anna und Lorenz Treplin 1914-1918, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 713 S., ISBN 978-3-506-76924-4, EUR 58,00
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Die Herausgeber bieten dem Leser eine Auswahl aus den insgesamt über 1.800 Briefen, die sich das Ehepaar Anna und Lorenz Treplin zwischen August 1914 und November 1917 geschrieben haben. 520 Briefe aus dieser Zeit sind in dem über 700 Seiten starken Buch abgedruckt, von den Herausgebern sorgfältig aufbereitet, erläutert, verknüpft und zusammengefasst. Eine knappe (rd. 30 Seiten) umfassende Einführung porträtiert das Ehepaar Treplin, skizziert einen Bogen, der durch die Briefe leitet und ordnet den Bestand in den Forschungskontext "Kriegsbriefe" ein. Wie sorgfältig die Herausgeber im Rahmen eines DFG-Projektes den im Hamburger Staatsarchiv aufbewahrten Nachlass des Mediziners Lorenz Treplin aufgearbeitet haben, wird wohl am augenfälligsten am Personenregister (692ff): dort werden alle Personen, auch wenn sie nur in einem Brief genannt werden, mit Angaben zu ihrer Stellung in der Familie oder dem Umfeld erwähnt.
Der Briefwechsel war von dem Ehepaar 1918 sorgfältig verpackt und dann von der gesamten Familie vergessen worden. Erst 1995 - mehr als 40 Jahre nach dem Tod des Chirurgen und mehr als 30 Jahre nach dem Tod seiner Frau - wurde die Korrespondenz entdeckt. Nur ein Brief fehlt - von Anna Treplin selbst vernichtet - dazu später mehr.
Die Herausgeber weisen dem Briefwechsel eine große Bedeutung zu: er lasse erkennen, wie die Briefeschreiber versucht haben, in der erzwungenen Ausnahmesituation des Krieges Alltag, Normalität und ihre bis dahin enge Beziehung aufrechtzuerhalten. Aus dieser Interpretation leitet sich auch der Titel der Publikation ab: "Einmal muß doch das wirkliche Leben wieder kommen!", so fleht Anna.
Wie viel "wirkliches" Leben und Krieg lässt sich in Briefen finden? Direkt wohl nur sehr wenig, und das belegt auch die vorliegende Edition. Kriegsbriefe - so betonen die Herausgeber mit Blick auf die bisherige Forschungsliteratur, vor allem aber mit Hinweis auf die geschätzten 28 Milliarden Feldpostsendungen, die in den Jahren 1914-1918 von der Front in die Heimat und zurück geschickt wurden - sie dienen eher als Quelle über bewusste und unbewusste Selbstinszenierung und Konstruktion von Wirklichkeit als dass sie ihren Lesern Informationen über den Kriegsverlauf böten. (10) Mehr als das subjektive Kriegserlebnis, so ihr Fazit, reflektierten Kriegsbriefe nicht. Denn Zensur, Rücksichtnahme auf die Empfänger und Sprachlosigkeit machen die Briefe zu einer Ansammlung über alltägliche Themen und nichtssagende Details. (11) Doch gerade in dem Austausch der trivialen Informationen sehen die Herausgeber die zentrale Funktion der Feldpostbriefe: sie boten den Schreibern emotionale Stabilisierung und Orientierung. (11) Und so eröffnen auch der vorliegenden Briefe keine Informationen zu ausgeprägten Feindbildern, zur Kriegsbegeisterung und zur schonungslosen Kriegsrealität - die ein Mediziner an der Front vermutlich erlebt hat. Vielmehr muss sich der Leser geduldig durch viele langatmige Briefe ackern, die deutlich werden lassen, dass wirklicher materieller Mangel (immerhin gibt es bis zuletzt Hausangestellte) von der Familie Treplin nicht verkraftet werden musste.
Ihr Briefwechsel, darauf weisen die Herausgeber hin, sei nicht nur wegen des Umfangs und der beinahen Lückenlosigkeit herausragend. Sie unterstreichen auch, dass die Bedeutung ihres Bestandes darin liege, dass Briefe und Gegenkorrespondenz erhalten seien, dass folglich Front- und Heimat"realität" gleichberechtigt nebeneinander stünden. Auch die Dichte der Kommunikation (20-30 Briefe von normalerweise zwei Seiten und mehr schrieben sich die Ehepartner über den gesamten Zeitraum von drei Jahren) sei außergewöhnlich. Und nicht zuletzt lassen sich über das Ehepaar Treplin viele zusätzliche Informationen zusammentragen, die bei der Lektüre sehr nützlich sind - und die von Tausenden anderen Feldpostschreibern nicht zu ermitteln sind.
Die Lektüre der Briefe war aus Sicht der Rezensentin streckenweise langweilig und mit geringem Ertrag: Wann passiert denn nun endlich etwas, wann gewinnt man neue Erkenntnisse, wie der Krieg an der Ost- und Westfront, in Hamburg, Berlin oder Hademarschen gewesen ist? Doch genau hier enttäuschen die Briefe - und das bestätigt in gewisser Weise die These der Herausgeber. Denn wenn es im Spiegel dieser Quelle nur subjektive Kriegserlebnisse gibt, darf man als Leser auch nicht erhoffen, strukturelle Erkenntnisse über den Krieg zu gewinnen.
Und doch passiert es: zwei Ereignisse im Jahr 1915 und 1917 erschüttern die mühsam aufgebauten Kommunikationsmuster. Als Anna nach dem Fronturlaub ihres Mannes im Spätsommer 1915 feststellt, dass sie mit ihrem vierten Kind schwanger ist, ist sie hin und hergerissen zwischen Freude und Sorge: "was aber wollen wir - fragt sich der Denkende, mit einer vierten Tochter?!" (356) Sie überlegt, ob nicht eine Fehlgeburt zu wünschen sei. (391) Daraufhin entbrennt der erste (und letzte) in den Briefen ausgetragene Krach. "Gestern kam richtig noch Dein Brief vom 22., der eigentlich aus einer einzigen Beschimpfung besteht! [...] Aber den Vorwurf des gefühllosen Scheusals, Rabenmutter, Tränentier - brauche ich schließlich doch nicht auf mir sitzen zu lassen!" (395) Der Brief endet jedoch versöhnlich und mit einer Liebeserklärung. Den Brief, den der Leser nur indirekt aus Annas Zitat kennt, ist - wie die Herausgeber betonen - nicht erhalten. Anna scheint ihn vernichtet zu haben, weil er - so lässt sich vermuten - der ursprünglichen Intention des Schreibens, Nähe zu schaffen, zuwiderlief, auch wenn es beiden schreibend gelang, die Verbindung zu bewahren.
Und an einem zweiten Ereignis wird deutlich, wie fragmentarisch und versetzt die Kommunikation ist, die das Medium Brief gewährleisten kann: Im Sommer 1917 erkranken die Kinder und die älteste Tochter stirbt. Und während Anna in ihren Briefen den sich verschlechternden, dann kurzfristig besser erscheinenden Zustand der Kinder schildert, besänftigt Lorenz oder bezieht sich ausschließlich auf Nachrichten über sinkendes Fieber und Nachlassen des Durchfalls aus früheren Briefen - von denen der Leser durch die abgedruckten folgenden Briefe Annas längst weiß, dass sie überholt sind. An keiner anderen Stelle wird dem Leser deutlicher und schmerzhafter bewusst, wie weit die Antworten Lorenz´ und die Realität der schwer erkrankten Kinder auseinander klaffen. Dem Vater gelingt es in letzter Minute, an der Beerdigung teilzunehmen. Wie hat Anna ihn über den Tod informiert - was hat er als Trost und in seinem eigenen Schmerz auf die Todesnachricht geantwortet? Das alles erfahren wir nicht, weil es eben (wenn nicht in den anderen Briefen) vermutlich mündlich kommuniziert wurde.
Der Leser erfährt mehr über das Kommunizieren mittels Briefen als über das Paar und erst recht über den Krieg. Ob die Strategie, durch die Briefe der Trennung zu trotzen, Gefühle zu bewahren und Stabilität zu schaffen, erfolgreich war, hätte der Leser gerne gewusst, doch wie Anna und Lorenz nach dem Ersten Weltkrieg weiterleben, erfahren wir nicht - und ob wir, ohne sie zu befragen, den Erfolg ihres Bemühens, einander nahe zu bleiben, überhaupt einschätzen können, ist auch fraglich.
Susanne Brandt