Thomas Mergel: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949-1990, Göttingen: Wallstein 2010, 416 S., 32 z.T. farb. Abb., ISBN 978-3-8353-0779-7, EUR 29,90
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Eine 62-jährige Karlsruherin hatte ursprünglich gar nicht mehr wählen gehen wollen, weil alle Politiker die Bürger am Ende doch nur veralberten. Dass sie doch noch ihr Kreuz machte, begründete sie mit einer Eigenschaft des späteren Überraschungssiegers: "Aber den Winfried Kretschmann finde ich sehr angenehm, der ist ein sachlicher Typ." [1] Diese Nahaufnahme aus der jüngsten Landtagswahl in Baden-Württemberg liest sich wie eine Bestätigung eines zentralen Ergebnisses, das Thomas Mergel aus seiner Untersuchung über die Wahlkämpfe in der alten Bundesrepublik herausdestilliert.
Wie schon in seiner Studie über parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik macht Mergel nicht politische Debatten und Entscheidungen an sich zum Gegenstand. Sein Ziel ist es anhand der Sprache, der Symbole, der Rituale und der Organisationsformen der Wahlkämpfe, die dahinter stehenden Vorstellungen von Politik zu rekonstruieren. Für eine solche politische Mentalitätsgeschichte bieten sich Wahlkämpfe besonders an, denn in diesen dichten Phasen symbolischer Kommunikation wird, so Mergels Ausgangsüberlegung, stets auch mitverhandelt, wie der demokratisch organisierte Streit ablaufen soll und darf. Gerade in diesem Punkt setzte sich die bundesdeutsche Politik jahrzehntelang mit der Erblast der NS-Propaganda auseinander, folgt man dem Autor. Die Manipulationstechniken, mit der die NSDAP in den letzten Jahren der Weimarer Republik ihre Wahlerfolge erreichte, setzten werbende politische Kommunikation noch lange nach dem Untergang des Dritten Reichs dem Generalverdacht der undemokratischen Verführung aus. Wahlkämpfe in der Bundesrepublik beschreibt Mergel daher auch als Emanzipationsgeschichte, als langen und beschwerlichen Weg heraus aus Goebbels' Schatten in eine demokratische Streitkultur.
Der zweite wichtige Einflussstrang, in den der Autor die bundesdeutsche Entwicklung einbettet, ist das Vorbild der USA. Amerikanische Wahlkampfmethoden waren das zentrale Vorbild für die Akteure, weil die Vereinigten Staaten als demokratische Befreier, als westliche Führungsmacht und als kulturelles Leitbild für die Deutschen als Lehrmeister der Nachkriegsdemokratie dienten. Mergel weist allzu lineare Amerikanisierungsthesen jedoch mit plausiblen Argumenten zurück. Die zahlreichen Impulse, die aus den USA in die Wahlkämpfe der Bundesrepublik drangen, wurden demnach nicht einfach übernommen - mal rascher, mal verzögert, mal stärker, mal abgeschwächt. Sie formten zwar die demokratische Kultur mit, waren aber nicht das dominierende Element in diesem Prozess. Entscheidender für den politischen Stil der Wahlkämpfe waren der Umgang mit eigenen Erfahrungen und Traditionen, soziale und strukturelle Voraussetzungen wie etwa die öffentlich-rechtliche Organisation von Rundfunk und Fernsehen, die Ausformung der Parteien oder gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse.
Mergel stützt sich auf eine breite Quellenbasis. Ein großer Vorzug seiner Studie liegt in dem Gewicht, das er den Rezipienten der Wahlwerbung zukommen lässt, und das kann er, weil er Briefe an die Wahlkämpfer, an Parteien und an Zeitungen auswertet. Die Tiefenschärfe seiner Beobachtungen gewinnt enorm dadurch, dass er über die großen Tageszeitungen hinaus auch Regionalpresse, Boulevardmedien und Illustrierte heranzieht. Darüber hinaus schöpft er vor allem aus den Parteiarchiven von CDU und SPD, während er die Bestände der kleinen Parteien außen vor lässt. Das ist eine arbeitsökonomisch verständliche Entscheidung, ebenso wie die Beschränkung auf Bundestagswahlkämpfe; beide verengen gleichwohl den Blickwinkel. Leider räumt Mergel den Texten ein Gewicht ein, das nur wenig Raum für Bilder lässt. Obwohl es zutreffen mag, das die Wahlkämpfe der Bundesrepublik "bombastische Papierschlachten" (159) waren, und obwohl das Buch einen Farbtafelteil mit insgesamt 32 Abbildungen enthält, ist eine Schieflage der Untersuchung nicht zu übersehen. Bildmotive, Fernsehspots, das ganze Arsenal an nicht-textlichen Wahlwerbemitteln kommt zwar durchaus vor - und Mergel zeigt auch, dass er solche Materialien zu analysieren versteht -, aber der Autor behandelt sie im Vergleich zu Texten bei Weitem nicht als gleichwertige Quellengattung und vergibt dadurch Deutungspotenzial.
Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Studie nicht chronologisch angelegt sein kann. Nach einem einführenden Kapitel, das sich mit Traditionen politischer Mobilisierung seit dem 19. Jahrhundert und transnationalen Einflüssen auseinandersetzt, gliedert sich die Analyse in zwei Hauptteile. Im ersten behandelt Mergel Marketing und politischen Stil. Mergel untersucht die besonderen Bedingungen und Formen, unter beziehungsweise mit denen in Deutschland überhaupt für Politik geworben werden konnte. Er beschreibt die performative Seite der Wahlkämpfe, rückt die mediale Präsentation und Verarbeitung ins Blickfeld und widmet sich der Inszenierung der Personen. Im zweiten Hauptteil geht es ihm um "deutsche Semantiken und Mentalitäten". Hier kristallisieren sich zunächst wiederkehrende Codes der Wahlkampfsprache heraus. Anschließend setzt er sich unter den Leitbegriffen "Sachlichkeit" und "Fairness" mit der Selbstthematisierung des Wahlkampfs auseinander und fragt nach der Bedeutung von Religion und Konfession. Dann folgt eine Betrachtung über den Wahlkampf als demokratisches Ritual, das den Wahltag unter der Überschrift "Nach der Schlacht" einschließt.
Vor allem die Ausführungen zum Stil der Sachlichkeit sind ein großer Gewinn. Mergel kann zeigen, dass damit ein tiefverwurzeltes Misstrauen gegen die Parteiendemokratie einherging. Ebenso plausibel ist seine Analyse der semantischen Profilbildung, durch die beide Volksparteien weithin positiv konnotierten Begriffe für sich reklamierten: War "Sicherheit" lange das Markenzeichen der CDU, so schaffte es die SPD seit der zweiten Hälfte der 1960er, den Begriff neu zu besetzen. Schlagworte wie "Soziale Sicherheit", "Sicherheitspartnerschaft", "gemeinsame Sicherheit" verbanden den attraktiven Begriff mit sozialdemokratischen Themen und generierten Wählerzuspruch. Das Buch ist reich an klugen Beobachtungen. An vielen Stellen müssen allerdings wenige Belege für zeitlich weitumspannende Thesen herhalten. Das Schwergewicht der zitierten Quellen liegt in den 1960er und 1970er Jahren. Die 1980er bleiben dagegen auch argumentativ unterbelichtet; dadurch wirkt die Argumentation zuweilen etwas pointillistisch.
Die Stärken des Ansatzes überstrahlen seine Schwäche, können sie aber nicht ganz verdecken. Mergel interessiert sich nicht für die Themen der Wahlkämpfe oder gar ihre Resultate. Aus diesem Grund misst er der Selbstthematisierung des Wahlkampfs viel Gewicht bei. Es ist allerdings fraglich, ob in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit den Propagandamethoden des Nationalsozialismus eine so beherrschende Rolle für die demokratische Kultur gespielt hat, wie das Buch suggeriert. Sein Titel sorgt ohne Zweifel für verdient hohe Aufmerksamkeit, aber spätestens seit den 1970er Jahren trifft die Generalthese nur noch sehr begrenzt zu. Dessen ungeachtet hat Thomas Mergel ein spannendes, trotz seiner Vorliebe für Anglizismen flüssig geschriebenes und äußerst anregendes Buch verfasst, das die Geschichte der politischen Kultur in der Bundesrepublik enorm bereichert.
Anmerkung:
[1] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3.4.2011, 49.
Bernhard Gotto