Rezension über:

Dorit Kluge: Kritik als Spiegel der Kunst. Die Kunstreflexionen des La Font de Saint-Yenne im Kontext der Entstehung der Kunstkritik im 18. Jahrhundert (= Kunst- und Kulturwissenschaftliche Forschungen; Bd. 7), Weimar: VDG 2009, 419 S., ISBN 978-3-89739-622-7, EUR 77,00
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Rezension von:
Stephanie Baumewerd
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Alexis Joachimides
Empfohlene Zitierweise:
Stephanie Baumewerd: Rezension von: Dorit Kluge: Kritik als Spiegel der Kunst. Die Kunstreflexionen des La Font de Saint-Yenne im Kontext der Entstehung der Kunstkritik im 18. Jahrhundert, Weimar: VDG 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/06/19017.html


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Dorit Kluge: Kritik als Spiegel der Kunst

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Die zum Druck überarbeitete Dissertation von Dorit Kluge, 2007 an der Universität Koblenz-Landau vorgelegt, ist inzwischen in der von Ludwig Tavernier herausgegebenen Reihe "Kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschungen" erschienen. Erklärtes Ziel der Autorin ist es, mit dieser Monografie den Autor La Font de Saint-Yenne und seinem kunstliterarischen Werk eine kontextbezogene Neubewertung in der Entstehungsgeschichte der Kunstkritik zukommen zu lassen, wie es die angelsächsische Forschung allerdings bereits vor einiger Zeit getan hat. [1]

Étienne La Font de Saint-Yenne (1688-1771) gilt bereits seit längerem als eine wichtige Figur innerhalb des französischen Kunstlebens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aus einer bürgerlichen Lyoner Familie stammend kam er 1741 nach Paris und etablierte sich als Kunstschriftsteller in den maßgebenden Künstler- und Gesellschaftskreisen. Zu seinen Lebzeiten stark rezipiert, geriet er später allerdings zusehends in Vergessenheit, vor allem in Bezug auf seine Pionierrolle am Beginn der literarischen Kunstkritik, auf die erstmals 1912 die bahnbrechende Studie zur französischen Rokoko-Kritik des 18. Jahrhunderts von Jean Locquin aufmerksam machte. [2] Aber selbst in der neueren französischen Forschung der letzten 10 Jahre werden die Anfänge dieser literarischen Gattung immer noch vorrangig mit Denis Diderot statt mit La Font in Verbindung gebracht. [3] Dieses Ungleichgewicht mag der mangelnden Fokussierung der Forschung auf die Schriften La Fonts geschuldet sein. Zwar brachte eine Edition seines Gesamtwerks durch Étienne Jollet im Jahr 2001 ihn und seine Abhandlungen erneut in das allgemeine Bewusstsein zurück, [4] jedoch existierte, von einigen unpublizierten Qualifikationsschriften abgesehen, bisher keine monografische Untersuchung zu seinen Schriften und ihrer Wirkung. [5]

Die entscheidende Rolle, die ihm bei der Entwicklung und Ausprägung der französischen Kunstkritik zukommt, wird in der von La Font geäußerten Kritik am Salon von 1746 besonders deutlich, welche im Folgejahr 1747 unter dem Titel Réflexions sur quelques causes de l'état présent de la peinture en France erschien. Das bei Zeitgenossen sehr umstrittene Pamphlet löste auf Seiten der Kunstakademie aufgrund seiner provokanten Urteile und darüber hinaus der Benennung der Gründe für einen vermeintlichen Verfall der zeitgenössischen französischen Kunst enorme Abwehrreaktionen aus. Ebenso ist ein Teil dieser Schrift der Öffnung der königlichen Kunstsammlungen für die Öffentlichkeit gewidmet und somit nicht nur in Hinblick auf die Entstehung der Kunstkritik, sondern auch für die Museumsgeschichte äußerst wertvoll. [6]

Dorit Kluge wählt als Untersuchungsperiode die literarisch produktivste Phase La Fonts, vom Erscheinungsjahr der Réflexions bis 1760, ein auch für das französische Kunstleben insgesamt entscheidender Zeitraum. Zu dieser Zeit verlagerte sich das französische Kunstzentrum von Versailles nach Paris, gesellschaftliche und kulturelle Liberalisierungstendenzen sowie der wirtschaftliche Aufschwung veränderten die Kunstproduktion nachhaltig.

In der Einleitung erläutert Kluge zunächst den bisherigen Forschungsstand zu La Font (16-19) und formuliert das methodische Ziel ihrer Untersuchung, eine Einbettung des Gesamtwerks dieses Autors, unter besonderer Berücksichtigung der Réflexions, in den soziokulturellen wie literarischen Zusammenhang ihrer Entstehungszeit mittels einer genauen Textanalyse. Das nachfolgende Einführungskapitel (25-106) widmet sich verschiedensten Aspekten der Kunstentwicklung als Hintergrundfolie, die dem besseren Verständnis der anschließenden Textanalysen dienen soll. Besonders thematisiert werden neben den fundamentalen Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben auch der neue Stellenwert der Öffentlichkeit sowie die damit einhergehenden Veränderungen in der Urteilsbildung über Kunst. Der durch eine öffentliche Diskussion herausgebildete Kunstgeschmack veränderte die Wahrnehmung von Künstlern wie der Kunst, welche dadurch schließlich zu einem Allgemeingut der Gesellschaft wurde.

Im anschließenden, umfangreichsten Kapitel stellt Kluge nicht nur die Entstehung des für die Geschichte der Kunstkritik so relevanten Textes der Réflexions dar, sondern erläutert auch die dem Text zugrundeliegenden Begriffe wie beispielsweise génie, goût und sentiment und ihre Anwendung durch den Autor. Diese kontextbezogene Analyse der Kritik La Fonts am Salon von 1746 zeigt, dass seine Beurteilung der einzelnen Kunstwerke dem Nutzen der allgemeinen Kunstentwicklung dienen sollte und so zum Beförderer für ein neues literarisches Genre wurde (198f.). In einem nächsten Schritt widmet sich Kluge der unmittelbaren Rezeption der Réflexions. Die Reaktionen verschiedener Gruppen von Zeitgenossen, innerhalb (262-268) wie außerhalb der Akademie (277-285), werden einzeln betrachtet und zeigen, dass die Ansichten La Fonts der Ausgangspunkt für eine öffentliche Debatte waren, denn neben seiner Schilderung der aktuellen Zustände zeigt er gleichzeitig Lösungswege auf (235ff.) und fordert damit auf verschiedenster Ebene Kritik an seiner Kritik heraus.

Das vorletzte Kapitel verortet das literarische Gesamtwerk La Fonts, darunter auch die Fortführung und Nuancierung der von ihm in den Réflexions geäußerten Ansichten (310-354), in dem für sein Verständnis notwendigen politisch-historischen sowie literarischen Kontext. Die Analyse nach formalen Charakteristika sowie die Anwendung der schon zuvor erläuterten Begriffe werden im Gesamtwerk untersucht, auch die Urteile über Ästhetik, Kunst, Kunsttheorie und Kunstpraxis sowie Architektur und Skulptur werden thematisiert. Das Gesamtwerk erfährt auf diese Weise eine nach Inhalten gegliederte Zusammenfassung, die einen allumfassenden Überblick über sein Schaffen liefert. Der Band schließt mit einer Zusammenfassung der Untersuchung und liefert einen Ausblick auf die weitere Genese der Kunstkritik als Textgattung. Hier wird besonders hervorgehoben, inwiefern La Font als Vorbild für nachfolgende Literaten und Kritiker diente. Zusätzlich wird an dieser Stelle auch der weitere europäische Kontext berücksichtigt und die Ausstrahlung seines Schaffens in das Ausland zumindest kurz angesprochen (370f.).

Die Stärke der Publikation liegt in der historischen Kontextualisierung des Lebens und Schaffens La Fonts. Kluge erläutert nicht nur die verschiedensten kunsttheoretischen Begrifflichkeiten in ihrem zeitgenössischen Verwendungszusammenhang, sondern sie erzeugt ein umfassendes Bild des französischen Kunstlebens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dass sie dabei kaum über den bereits erreichten Forschungsstand der oben angesprochenen angelsächsischen Autoren hinausgelangt, die sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Begriff der "Kunstöffentlichkeit" im französischen Ancien Régime auseinandergesetzt haben, erscheint zumindest für ein breiteres deutschsprachiges Publikum hinnehmbar, dem diese Forschung unbekannt geblieben und aus sprachlichen Gründen nicht leicht zugänglich ist. Auf die Übersetzung der im Text vielfach verwendeten Originalzitate ist dagegen zugunsten ihrer Überprüfbarkeit als historische Quellen verzichtet worden. Eine solche Übersetzung wäre jedoch - gerade im Blick auf ein breiteres Publikum - wünschenswert gewesen, weil es bisher keine Übertragung der Texte La Fonts ins Deutsche gibt.


Anmerkungen:

[1] Thomas E. Crow: Painters and Public Life in Eighteenth-Century Paris, New Haven / Conn. / London 1985; Richard Wrigley: The Origins of French Art Criticism. From the Ancien Régime to the Restauration, Oxford 1993.

[2] Jean Locquin: La peinture d'histoire en France de 1747 à 1785. Étude sur l'évolution des idées artistiques dans la seconde moitié du XVIIIe siècle, Paris 1912 (Reprint 1978).

[3] Beispiele sind Gérard-Georges Lemaire: Histoire du Salon de Peinture, Paris 2004; Charlotte Maurisson: Le texte en perspective, in dies. / Agnès Verlet: Écrire sur la peinture, Paris 2006.

[4] Étienne Jollet (Hg.): Œ uvre Critique - La Font de Saint-Yenne, Paris 2001.

[5] Zum Beispiel Patrick Descortieux: Les théoriciens de l'art au XVIIIe siècle. La Font de Saint-Yenne, Mémoire de maîtrise, Université Paris IV (Sorbonne), 1978 (unpubliziert).

[6] Zur Bedeutung der "Réflexions" in Bezug auf die Museumsgeschichte vgl. Bénédicte Savoy / Andrea Meyer / Kristina Kratz-Kessemeier (Hgg.): Museumsgeschichte. Kommentierte Quellentexte 1750-1950, Berlin 2010, 61-66. Eine umfassende Analyse findet sich in Andrew McClellan: Inventing the Louvre. Art, Politics, and the Origins of the Modern Museum in Eighteenth-Century Paris, Cambridge / New York 1994.

Stephanie Baumewerd