Peter Winzen: Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907-1909, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 366 S., ISBN 978-3-412-20630-7, EUR 39,90
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Wenn "die Welt ist, was der Fall ist", wie Wittgenstein im ersten Satz des Tractatus logico-philosophicus sagt, dann bieten spektakuläre Skandalprozesse, in denen komplexe gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu einem "Fall xy" verschmelzen, einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand für den Mentalitätshistoriker. Was als skandalöser Zustand empfunden, wer als Schuldiger benannt und wie ein Vergehen gegen die moralische Ordnung gesühnt wird, ermöglicht oft über den konkreten Einzelfall hinaus tiefe Einblicke in die offenen und verborgenen Konfliktlinien einer Gesellschaft. Der öffentliche Deutungsstreit im Skandal ist dabei immer auch ein Machtkampf um der Benennung dessen, was eigentlich der Fall ist: Empört man sich über den bloßgestellten Missetäter oder über die rücksichtslosen Enthüller und moralisierenden Ankläger, über die Tyrannei der nach Vergeltung schreienden Mehrheit oder die Unfähigkeit der staatlichen Institutionen, offenkundige Missstände zu beseitigen?
Für den Historiker ergibt sich aus der Vielschichtigkeit der im Skandal verhandelten Interessen, Normen und Wertvorstellungen die Notwendigkeit einer präzisen Bestimmung dessen, was im konkreten Fall eigentlich untersucht werden soll. So ist der Eulenburgskandal, um den es in dem hier zu besprechenden Buch geht, bereits unter einer Vielzahl verschiedener Perspektiven beleuchtet worden: als politische Krise des persönlichen Regiments Wilhelms II., die im Zusammenspiel mit der zeitgleichen Daily-Telegraph-Affäre zu einer schweren Beschädigung des kaiserlichen Ansehens im In- und Ausland führte; als Homosexualitätsskandal, in dem zum ersten Mal die herrschende heterosexuelle Moralordnung öffentlich in Frage gestellt wurde; als wichtiger Katalysator des sich nach der Jahrhundertwende radikalisierenden Antisemitismus in Deutschland; oder als Justiz- und Medienskandal, in dem sich eindrucksvoll die Unfähigkeit des wilhelminischen Obrigkeitsstaates offenbarte, den gestiegenen Partizipationsbestrebungen der modernen Massenkommunikationsgesellschaft mit den traditionellen Instrumenten der politischen Justiz und staatlichen Presselenkung entgegenzutreten.
Winzens Studie zum Ende der Kaiserherrlichkeit fügt, das sei vorweggenommen, den genannten Perspektiven keine neue hinzu. Stattdessen beschränkt sich der Autor weitestgehend auf eine rein ereignisgeschichtliche Rekonstruktion der schier endlosen Prozessserie, die seit den spektakulären Enthüllungen Maximilian Hardens Ende 1906 zweieinhalb Jahre lang die Öffentlichkeit in Atem hielten. Winzens Fragestellung lautet schlicht: "Wer stand eigentlich hinter der Harden-Kampagne?" (9). Seine Antwort: Der geheime Drahtzieher und "Brandstifter" (344) im Hintergrund war niemand anders als Reichskanzler Bernhard von Bülow, dessen politischen Intrigen Winzen vor einigen Jahren bereits im Rahmen einer Biographie und einer Quellensammlung zur Daily Telegraph-Affäre nachgespürt hat. [1]
Zwar ist diese These nicht gerade neu - Helmuth Rogge verwies bereits 1959 auf das "geheime personalpolitische Dreieck" zwischen Harden, dem Geheimrat Friedrich von Holstein und Bülow an der Spitze [2] -, doch gelingt es Winzens minutiöser Darstellung der politischen Motive, juristischen Strategien und taktischen Finten der Hauptakteure des Skandals, die zwielichtige Doppelrolle des Reichskanzlers in bisher unbekannter Dichte und Plastizität nachzuzeichnen. Strikt chronologisch und in einer zitierfreudigen Detailbesessenheit, die an John Röhls monumentale Kaiserbiographie erinnert, breitet er die Ergebnisse seiner langjährigen Archivstudien vor den Augen der Leser aus. Die in einem unprätentiösen, flüssigen Stil geschilderten dramatischen Wendungen und Zuspitzungen der Ereignisse sorgen dabei für eine auch für den historischen Laien unterhaltsame Lektüre.
Leider belässt es der Autor nicht bei dieser konventionellen, aber durchaus soliden Rekonstruktion der Hintertreppenpolitik im Arkanbereich wilhelminischer Herrschaft. Als zweites zentrales Ergebnis seiner Studie präsentiert Winzen die Erkenntnis, "dass alle Hauptbeteiligten - Kläger wie Beklagte, Opfer wie Hintermänner - entweder eindeutig homosexuell oder doch zumindest homophilen Neigungen nicht gänzlich abhold waren" (12). So unbestritten dieser recht vage definierte Befund im Falle der skandalisierten Kaiserfreunde Philipp von Eulenburg und Kuno von Moltke ist, so zweifelhaft ist er bei Bülow und Harden. Möglicherweise bietet Winzen in seiner Parallelpublikation Freundesliebe am Hof Kaiser Wilhelms II. stichhaltigere Belege für seine gewagte These eines allgegenwärtigen homoerotischen Odeurs innerhalb der Machtelite des späten Kaiserreichs. [3] Im vorliegenden Buch bleibt er diese ebenso schuldig wie die Antwort auf die Frage, welcher Erkenntnisgewinn überhaupt mit einem derartigen Befund verbunden sein soll.
Der durchgängige Verzicht auf eine systematische Fragestellung und eine gelegentlich allzu spekulative Ausdeutung des widersprüchlichen und lückenhaften Quellenmaterials schmälern den Wert einer ansonsten mit beeindruckender Gründlichkeit recherchierten, klar strukturierten und gut lesbaren Darstellung eines Schlüsselereignisses der deutschen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei wirft Winzen die diskussionswürdige Frage auf, ob der "Fall Eulenburg" nicht eher als ein "Fall Bülow" zu betrachten ist. Als politische Chiffre der wilhelminischen Mentalität ist der Fall damit jedoch noch längst nicht entschlüsselt.
Anmerkungen:
[1] Peter Winzen: Reichskanzler Bernhard von Bülow. Weltmachtstratege ohne Fortune - Wegbereiter der großen Katastrophe, Göttingen / Zürich 2003 und: Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908, Stuttgart 2002.
[2] Helmuth Rogge: Holstein und Harden. Politisch-publizistisches Zusammenspiel zweier Außenseiter des Wilhelminischen Reiches, München 1959, 13.
[3] Peter Winzen: Freundesliebe am Hof Kaiser Wilhelms II., Norderstedt 2010.
Henning Holsten