Rezension über:

Ulrich Söding: Gotische Kruzifixe in Tirol. Herausgegeben von der Südtiroler Kulturstiftung, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, 288 S., 16 Farb. u. 120 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06866-7, EUR 35,00
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Rezension von:
Manuel Teget-Welz
Bayerisches Nationalmuseum, München
Redaktionelle Betreuung:
Tobias Kunz
Empfohlene Zitierweise:
Manuel Teget-Welz: Rezension von: Ulrich Söding: Gotische Kruzifixe in Tirol. Herausgegeben von der Südtiroler Kulturstiftung, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/20250.html


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Ulrich Söding: Gotische Kruzifixe in Tirol

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Die Darstellung des Leidens Jesu Christi gehört auch im ausgehenden Mittelalter zu den Kernthemen der bildenden Kunst, was auch Albrecht Dürer 1513 im zweiten Entwurf seines Lehrbuchs zur Malerei betont. [1] Innerhalb des Passionsgeschehens zählt die Kreuzigung zu den zentralen und viel geschilderten Episoden. Das hier vergossene Blut des Herrn soll auf das Sakrament der Eucharistie und dessen Einsetzung verweisen. Diese auf die Kirchenväter zurückreichende Glaubensvorstellung findet bildlichen Ausdruck im Kruzifix, das man meist in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Altar errichtete, freistehend oder als Teil eines Retabels. Zudem wurde das Kruzifix auch außerhalb des Gotteshauses positioniert, häufig - und dann aus Stein - auf dem Friedhof. Hier formiert das 1467 von dem Niederländer Nikolaus Gerhaert von Leiden gehauene Baden-Badener Kruzifix in Ausdruckskraft und Lebensnähe eine richtungsweisende Inkunabel, die in ihrer Wirkungskraft kaum zu überschätzen ist.

Das Baden-Badener Kruzifix fand in der Kunstwissenschaft entsprechend seiner herausragenden entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung durchaus angemessene Beachtung, und mit der Dissertationsschrift von Mechtild Ohnmacht wurde diesem Hauptwerk der spätgotischen Skulptur eine eigene Monografie gewidmet. [2] Trotzdem und entgegen der primären Bedeutung der Bildhaueraufgabe Kruzifix wurde diese ansonsten bislang weitgehend stiefmütterlich behandelt. [3] Ein gutes Beispiel ist die sonst so gründliche Monografie von Gertrud Otto zur Ulmer Plastik des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts. [4] Otto erwähnt Kruzifixe nur peripher, obwohl in Ulm und Oberschwaben durchaus herausragende Stücke - beispielsweise von Michel Erhart, Niklaus Weckmann oder Daniel Mauch - zu finden sind.

Es kann daher nicht verwundern, dass eine grundlegende und zusammenfassende Darstellung zum Thema Kruzifix im ausgehenden Mittelalter bislang fehlt. Einen gewichtigen Beitrag zur Aufarbeitung des Desiderats kann Ulrich Söding mit seiner 2010 im Deutschen Kunstverlag erschienen Publikation leisten. Söding richtet seinen Fokus auf die zahlreichen gotischen Kruzifixe in der historischen Grafschaft Tirol mit den Fürstbistümern Brixen und Trient. Diese Ausrichtung ist sinnvoll und lohnenswert, weil hier zum einen eine hohe Überlieferungsdichte besteht und zum anderen für den lokalen Markt neben bedeutenden ansässigen Bildhauern - wie Hans Harder oder Hans Klocker - auch auswärtige Hauptmeister - wie Gregor Erhart oder Jörg Lederer - arbeiteten.

Södings Buch ist in zwei Teile gegliedert und umfasst eine ausführliche Einleitung sowie einen Katalog; dazu kommen die obligatorische Bibliografie und ein Register. Der einleitende Essay blickt wohltuend weit über den "Tellerrand" der Kunstlandschaft Tirol hinaus und trägt so auch grundlegend zu Kenntnis und Verständnis des gotischen Kruzifixes, seiner Ikonografie und insbesondere seiner stilistischen Entwicklung bei (9-66). Das Hauptaugenmerk aber liegt freilich auf Tirol. Indem Söding nicht nur Kruzifix an Kruzifix reiht, deren Kontext und Stilentwicklung beleuchtet, sondern auch die dahinter stehenden Meister näher vorstellt, wird der Text zudem zum Überblick über die Bildhauerkunst in Tirol vom Mittelalter bis zur Renaissance.

Södings Katalog der gotischen Kruzifixe in Tirol umfasst 62 zum Teil weitgehend unbeachtete und unbearbeitete Kruzifixe. Die Bildwerke werden ganzseitig in Farbe und schwarz-weiß, vielfach auch mit zusätzlichen Detailaufnahmen, in durchgehend guter Bildqualität abgebildet. Alle Stücke werden detailliert besprochen; dazu kommen knappe Angaben zu Technik und Zustand der Objekte. Informationen zu Entstehungsgeschichte und Überlieferung werden auf historische Glaubwürdigkeit hin untersucht. Stilistische Merkmale arbeitet Söding durchweg gut nachvollziehbar heraus und zieht diese zur sorgfältig begründenden Überprüfung von Zuschreibungs- und Datierungsfragen heran.

Das wohl älteste erhaltene Kruzifix in Tirol verwahrt die Alte Pfarrkirche von Gries (Kat.-Nr. 1). Nach dem Titulus, der allerdings nicht der originale ist, soll das Werk im Jahr 1205 entstanden sein. Diesem in der Literatur vielfach unkritisch übernommen Datum begegnet Söding mit Skepsis und ordnet das Stück später, nämlich um 1220/30 ein. Den Kruzifixus beschreibt er "als singuläre Arbeit eines französisch inspirierten, aber doch sehr individuell gestalteten Bildschnitzers" (98).

In Sterzinger Privatbesitz befindet sich ein bislang unpublizierter Kruzifixus (Kat.-Nr. 17). Söding kann das Stück überzeugend Hans Harder zuordnen und um 1470 datieren. Harder geht von Hans Multschers neuartigem, nach Realismus strebendem Schnitzstil aus, den er aus erster Hand kennengelernt haben dürfte. Mit Harder nachweisbar in engem Kontakt stand Hans Klocker, der ab 1478/79 in Brixen nachweisbar ist. Söding fragt, ob zu den einschlägig bekannten Klocker-Retabeln nicht Kreuzigungsgruppen als Bekrönung gehört haben könnten (47). Konkret bringt er die Kreuzigungsgruppe in der Pfarrkirche von Natters in die Diskussion. Dass diese tatsächlich schon ursprünglich in einem Auszug stand, wird durch die vollrunde Ausarbeitung der Assistenzfiguren nahe gelegt.

Eine Sonderrolle in Tirol, nicht nur seines Materials wegen, bildet das aus feinem Jurakalkstein gehauene Kruzifix in der Franziskanerkirche von Schwarz, das 1521 geliefert worden sein soll (Kat.-Nr. 41). Es ist das Verdienst Alfred Schädlers, dieses beeindruckende Werk Gregor Erhart, Augsburgs Hauptmeister der Zeit Maximilians I., zugeschrieben zu haben. Unverkennbar ist die stilistische Verwurzelung in den bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts weit gefragten Kruzifixen Michel Erharts von Ulm. Wie Söding betont, "gehört dieser Corpus zu den Hauptwerken der süddeutschen Skulptur" schlechthin (204).

Im Resultat liegt ein gelungener Band vor, der einen wichtigen Baustein zur Erforschung der gotischen Skulptur, nicht nur in Tirol liefert. Die Gattung Kruzifix erhält hier eine dem Thema und seiner Bedeutung im Schaffen der spätmittelalterlichen Bildhauer angemessene Würdigung. Dabei ist schließlich auch der hohe Arbeitsaufwand zu würdigen, der zur Realisierung eines solchen grundlegenden Projekts nötig ist. So war beispielsweise das Bildmaterial für viele der im Buch vorgestellten Kruzifixe nicht vorhanden und musste von Söding zum Teil selbst unter sicher nicht immer optimalen Arbeitsbedingungen selbst angefertigt werden.


Anmerkungen:

[1] "Dan dy gemell werden geprawcht jm dinst der kyrchen und dardurch an getzeigt das leyden Chrysty [...]" Zit. n. Hans Rupprich (Hg.): Dürer. Schriftlicher Nachlass. Band 2, Berlin 1966, 131.

[2] Vgl. Mechtild Ohnmacht: Das Kruzifix des Niclaus Gerhaert von Leyden in Baden-Baden von 1467. Typus-Stil, Herkunft-Nachfolge, München 1970.

[3] Grundlegend für das Verständnis der Kruzifix-Ikonografie ist ferner Reiner Kahsnitz: Veit Stoss. Der Meister der Kruzifixe, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1997), 123-179.

[4] Vgl. Gertrud Otto: Die Ulmer Plastik der Spätgotik, Tübingen 1927.

Manuel Teget-Welz