Katarzyna Madon-Mitzner: Errettet aus Mauthausen. Berichte polnischer ehemaliger Häftlinge des NS-Konzentrationslagers Mauthausen-Gusen, Warszawa: Ośrodek KARTA 2010, 387 S., ISBN 978-83-61283-38-6
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Jürgen Hensel / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, Osnabrück: fibre Verlag 2013
Jochen Böhler / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939-1945, Osnabrück: fibre Verlag 2012
Dan Michman: Angst vor den "Ostjuden". Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust. Aus dem Engl. übers. von Udo Rennert, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2011
Die systematische Befragung von KZ-Überlebenden begann in Deutschland in den frühen 1990er Jahren. Seit diesem Zeitpunkt haben nahezu alle deutschen KZ-Gedenkstätten Vorhaben auf den Weg gebracht, um die Überlebenden in wissenschaftlich fundierter Weise über ihre Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen zu befragen. In der Regel handelt es sich um Gespräche, welche die gesamten Lebensgeschichten der Interviewten umfassen und die anschließend transkribiert, gegebenenfalls übersetzt und schließlich für Forschungs- oder Ausstellungszwecke zur Verfügung gestellt werden. In diesen Kontext reiht sich auch das zu besprechende Buch ein. Präsentiert werden übersetzte Passagen aus über einhundert lebensgeschichtlich angelegten Interviews mit polnischen Überlebenden des Lagerkomplexes Mauthausen-Gusen.
Es handelt sich dabei um ein Teilprojekt des groß angelegten Oral-History-Projekts "Mauthausen Survivors Documentation Project" (MSDP), das vom österreichischen Innenministerium finanziert wird, unter der wissenschaftlichen Leitung des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien steht und vom Institut für Konfliktforschung sowie dem Dokumentationszentrum des Österreichischen Widerstands koordiniert wird. In den Jahren 2002 und 2003 trug das MSDP insgesamt knapp 900, meist mehrstündige lebensgeschichtliche Interviews mit Überlebenden des KZ Mauthausen zusammen, und zwar in 19 europäischen Ländern, Kanada, den USA, Argentinien und Israel. In den einzelnen Ländern waren jeweils wissenschaftliche Kooperationsinstitute für die Durchführung der Interviews zuständig. In Polen zeichnete das im Jahre 2002 in Warschau gegründete Zentrum KARTA verantwortlich, das spezialisiert ist auf die Erhebung und Präsentation von Erfahrungsberichten polnischer Zeitzeugen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Zweiten Weltkriegs. Mittlerweile sind dort 3000 Interviews geführt und aufbereitet worden.
Im Lagersystem Mauthausen-Gusen waren insgesamt etwa 50000 polnische Häftlinge (überwiegend Männer) inhaftiert, von denen etwa die Hälfte das Kriegsende erlebte. Nicht alle Überlebenden kehrten nach Polen zurück und die überwiegende Mehrzahl der Rückkehrer ist inzwischen verstorben. Vermutlich leben heute noch etwa 500 ehemalige polnische Häftlinge des Lagerkomplexes Mauthausen, überwiegend Personen, die zum Zeitpunkt der Verhaftung Jugendliche oder junge Erwachsene waren. Diese stellten daher auch die große Mehrzahl der im Rahmen des MSDP befragten polnischen Überlebenden, unter denen sich lediglich drei Frauen und ein Jude befanden. Im vorliegenden Band wird das transkribierte und übersetzte Interviewmaterial in Teilen vorgestellt. Es handelt sich jedoch nicht um den Abdruck einzelner, dafür vollständiger Interviews, sondern um ausgewählte Textpassagen aus wiederum ausgewählten Interviews. Die Bearbeiter unterteilten die Erinnerungsberichte in einzelne Sequenzen und ordneten diese nach den folgenden zeitlichen beziehungsweise thematischen Schwerpunkten: die Zeitspanne von der Geburt bis zum September 1939 (hier illustrieren zahlreiche Fotos die Berichte), Kriegsschicksal, Verhaftung, die Wege ins Lager. Die Erinnerungen an das KZ wurden nach folgenden Kategorien sortiert: Hunger, Revier, System des Terrors, Häftlingsgesellschaft und Überlebensstrategien. Abschließend geht es um die letzten Tage im Lager und die Befreiung. Als eine Art Ausblick wurden einige wenige Seiten für das "Leben danach" reserviert. Ein Anhang umfasst die etwa zehnzeiligen Kurzbiografien der Interviewten mit Verweis auf die MSDP-Archivsignatur sowie eine Namensliste derjenigen Personen, die interviewt wurden, deren Berichte aber nicht Eingang in die Publikation fanden. Abgerundet wird der Band durch ein Lexikon der Lagerbegriffe sowie einige zeitgenössische Fotos aus dem Lagerkomplex Mauthausen.
Der Aufbau des Buches - die von den Bearbeitern vorgenommene Ordnung der durchweg hochinteressanten Erzählpassagen nach Schwerpunktthemen - ist insofern problematisch, als der Leser wenig über die Kriterien der Auswahl erfährt: Warum werden die genannten Themen in den Mittelpunkt gestellt, andere ausgeblendet? Entspricht die Auswahl den Schwerpunktsetzungen im Interview selbst? Und nicht zuletzt: Nach welchen Prinzipien wurde das Erzählte für die Veröffentlichung stilistisch überarbeitet und warum kommen bestimmte Personen nicht zu Wort? Diese Fragen, denen man weitere hinzufügen könnte, ergeben sich unmittelbar aus der inzwischen weit gediehenen Methodendiskussion über die Berichte der Überlebenden, in der bereits früh und zu Recht betont wurde, dass diese die historische Wahrheit nicht unmittelbar abbilden. Der Entstehungs- und Erzählkontext ist zentral, um die Berichte verstehen und entschlüsseln zu können, und es ist daher bedauerlich, dass dieser dem Leser vorenthalten wird. Insofern darf man gespannt sein auf die bereits angekündigten Auswertungsbände des MSDP, die - so ist zu erwarten - die Zeugnisse der Überlebenden nicht nur abbilden werden, sondern auch kontextualisieren und damit in einem weitergehenden Sinne les- und verstehbar machen.
Karin Orth