Hans-Jürgen Grabbe (Hg.): Halle Pietism, Colonial North America, and the Young United States (= USA-Studien; Bd. 15), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 321 S., ISBN 978-3-515-08767-4, EUR 59,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Jonathan Strom / James Van Horn Melton / Hartmut Lehmann (ed.): Pietism in Germany and North America 1680-1820, Aldershot: Ashgate 2009, X + 289 S., ISBN 978-0-7546-6401-7, GBP 60,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Heinz Schilling / Stefan Ehrenpreis (Hgg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur, und Wissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot 2007
Agnes Winter: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574-1740), Berlin: Duncker & Humblot 2007
Jens Bruning / Ulrike Gleixner (Hgg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576-1810, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2010
Hartmut Lehmann (Hg.): Migration und Religion im Zeitalter der Globalisierung, Göttingen: Wallstein 2005
Wolfgang Behringer / Hartmut Lehmann / Christian Pfister (Hgg.): Kulturelle Konsequenzen der "Kleinen Eiszeit". Cultural Consequences of the 'Little Ice Age', Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
Hartmut Lehmann (Hg.): Geschichte des Pietismus. Band 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rolle des Pietismus bei der Gründung und der geistigen Prägung der deutschsprachigen Siedlungen in den nordamerikanischen Kolonien bzw. in den jungen Vereinigten Staaten erlebt bereits seit einigen Jahren einen erstaunlichen Aufschwung. Einen gewichtigen Anteil daran haben die beiden hier vorzustellenden Neuerscheinungen. Der überwiegende Teil der Beiträge geht dabei auf Konferenzen der Jahre 2002 und 2004 an der Stiftung Leucorea in Wittenberg und an der Emory University Atlanta, Georgia zurück. Zur thematischen Abrundung und Vertiefung wurden zudem zusätzliche Texte aufgenommen.
Ungeachtet der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen weisen die beiden Sammelbände zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. So werden die europäischen und die amerikanischen Perspektiven bei der Behandlung der kulturellen Austauschprozesse im Zeichen des Pietismus gleichermaßen einbezogen, was auch seinen Niederschlag in der Berücksichtigung deutscher und amerikanischer Fachwissenschaftler findet. Methodisch greifen beide Bände - insbesondere der von Strom u.a. verantwortete - das Konzept der Atlantic history bzw. der Atlantic World auf, in deren Kontext die Reisewege, kommunikative Netzwerke und der Waren- und Informationsaustausch interpretiert werden. Beiden Bänden ist zudem die Anwendung eines breiten Pietismus-Begriffs gemeinsam, der es erlaubt, die unterschiedlichen Aktivitäten der "three Pietisms" Halle, Herrnhut und Württemberg in Übersee und die von ihnen beeinflussten amerikanischen Gemeinden gleichermaßen einzubeziehen, so Hermann Wellenreuther (in: Pietism in Germany and North America, 131). Schließlich decken beide Sammelbände den Zeitraum zwischen den ersten Kontakten der Halleschen Pietisten nach Nordamerika um 1700 und der Stabilisierung der jungen Vereinigten Staaten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ab.
Hans-Jürgen Grabbe betont einleitend, in dem von ihm herausgegebenen Sammelband werde der Versuch unternommen, "to present the 'full panoply of Halle-inspired activities'" in Übersee (9). Konsequent richtet dieser deshalb den Focus auf die Neue Welt, während die deutschen Verhältnisse nur am Rande behandelt werden. Die Beiträge des Buches lassen sich in drei Themenbereiche gliedern: Personelle Kontakte und geistlich-geistiger Austausch zwischen Amerika und Halle, die deutschen Gemeinden und die pietistischen Geistlichen im sozialen Kontext der englischen Kolonialgesellschaft bzw. der neu errichteten föderalen Republik sowie schließlich die Rolle der deutschstämmigen Protestanten im Prozess der Identitätsbildung der jungen Vereinigten Staaten an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Zu den behandelten Personen gehören zunächst die Halleschen Theologen der ersten Generation, allen voran Heinrich Melchior Mühlenberg, dessen 300. Geburtstag sich 2011 jährt. [1] So versucht Wolfgang Splitter in seinem Beitrag zu zeigen, wie wenig vorbereitet und weitgehend ohne konkrete Konzepte und Strategien Mühlenberg und die übrigen Geistlichen auf die Gemeinden in Übersee trafen. Auch "the Francke Foundations at Halle" mit Gotthilf August Francke an der Spitze "had no concrete idea of the objectives, potentials, and limits of this pious expedition" (47). Spittler führt diese beträchtlichen Anfangsschwierigkeiten auf die unterschiedlichen Erfahrungshintergrunde zurück - einerseits die amtskirchlichen Vorstellungen der in Preußen ausgebildeten Theologen, andererseits das 'ungeordnete', freie, von Konkurrenzen geprägte konfessionelle Spektrum in der Neuen Welt, in der sich die Gemeinden nicht mit zentraler Autorität führen ließen. Diese Konstellation wird von mehreren Autoren aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. So widmet sich Donald F. Durnbaugh der konfliktgeladenen Beziehung Mühlenbergs zu Johann Christoph Sauer, der als erster deutscher Buchdrucker dem radikalen Pietismus nahestand und die hierarchische Kirchenvorstellungen der Hallenser Theologen nachdrücklich bekämpfte. "Personal religious piety" und "a churchly Pietist firmly dedicated to the establishment of a viable Lutheran church" trafen hier antagonistisch aufeinander und beeinträchtigten die Entfaltung der deutschen Gemeinde (112).
Konflikten und Problemen in den Anfangsjahren der Halleschen Unternehmungen in Amerika standen gewichtige Förderer und Protektoren außerhalb gegenüber. Diese Rolle erfüllte über viele Jahre der lutherische Prediger am Hof von St. James in London Friedrich Michael Ziegenhagen, den Norman J. Threinen vor allem als Koordinator der geistlichen Missionsprojekte und Unternehmungen in Nordamerika und in Indien (Tranquebar) vorstellt. [2] Renate Wilson fragt nach dem Charakter der Beziehung zwischen Halle und den deutschen Gemeinden in den jungen Vereinigten Staaten in der "zweiten Generation" nach 1780. Sie arbeitet dabei die Rolle des Handels vor allem mit Büchern und medizinischen Präparaten für die Aufrechterhaltung dieser Beziehung heraus. Während Halle als Zentrum der Wissenschaft ein wichtiger Bezugspunkt blieb - Wilson zeigt dies am Beispiel der Entwicklung der Botanik in Amerika - nahm die Bedeutung der Stadt als geistliches Zentrum für die Neue Welt deutlich ab. Damit kommt sie zu ähnlichen Ergebnissen, wie zuvor bereits Threinen, der diesen Bedeutungsverlust bereits in den 1760er Jahren feststellt (134). Theodore Runyon schließlich thematisiert den Einfluss des Pietismus auf John Wesley und die Entwicklung des Methodismus als spezifischer Ausprägung des amerikanischen Protestantismus. Runyon hebt vor allem die Bekehrungsvorstellungen des Pietismus und dessen Charakter als "heart religion" (144) als einflussreiche Vorbilder hervor.
Eine Reihe von Beiträgen beschäftigen sich mit der Stellung der deutschsprachigen Gemeinden innerhalb der englischen Kolonialgesellschaft bzw. der seit 1776 unabhängigen Republik. Dabei stehen verschiedene Konfliktfelder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: die Bewahrung einer eigenständigen Identität innerhalb einer konfessionell pluralistischen Umwelt, die Frage der Kompetenzverteilung zwischen den einzelnen Gemeinden und einer vor allem von Mühlenberg angestrebten kirchlichen Leitungsebene sowie schließlich das Verhältnis bzw. die Kommunikationsformen zwischen den Gemeinden, etwa in Gestalt der deutschsprachigen Broadsides (der Aufsatz von Carola Wessel). So untersucht Mark Häberlein das geistliche Personal in Lancaster, Pennsylvania unter dem Eindruck des zwischen 1748 und 1815 schwindenden Einflusses der Halleschen Pietisten in der nach Eigenständigkeit strebenden Gemeinde. Marianne S. Wokeck behandelt die sozial stabilisierende und identitätsfördernde Wirkung des Pfarrhauses. Peter Vogt stellt das unterschiedliche Verständnis von 'Kirche' bei den europäisch geprägten Geistlichen und den Gemeinden vor und zeigt, dass das von Halle ausgehende Streben nach einheitlichen Strukturen einer nachhaltigen Fremdheitserfahrung innerhalb der religiös pluralistischen amerikanischen Gesellschaft geschuldet war.
Verschiedene Autoren thematisieren schließlich die Rolle der von Halle und dem deutschen Pietismus geprägten Gemeinden im langen Prozess der Identitätsbildung der jungen Vereinigten Staaten an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Auch hier stehen eher die Schwierigkeiten und Konflikte im Mittelpunkt, wahrten doch die deutschen Gemeinden lange eine deutliche Distanz gegenüber der englisch geprägten politischen Kultur des Landes, wie Steven M. Nolt in seinem Beitrag "Nationalism, Reform, and Pennsylvania Germans in the Early Republic" zeigt. Aber auch die quantitative Bedeutung, der kulturelle Einfluss und die Eigenständigkeitsbestrebungen der deutschstämmigen Bewohner Pennsylvanias wurden kritisch wahrgenommen, wie Carla Mulford anhand der Schriften Benjamin Franklins aus vorrevolutionärer Zeit deutlich macht. Dieser versuchte "to create a set of values that would organize the disparate English-speakers into a 'nation'" (159), in die sich auch die deutstämmigen Bewohner, deren Anteil am Aufstieg des Landes Franklin durchaus würdigte, unter Bewahrung der eigenen Freiheit einfügen sollten. Den latenten Konflikt zwischen deutscher Herkunft und amerikanischer Lebenswelt versucht schließlich Paul Baglyos in der Biographie des zweiten Sohnes Heinrich Melchior Mühlenbergs, Frederick Augustus Muhlenberg aufzuspüren. Von seinem Vater bereits als Jugendlicher zur Ausbildung nach Halle geschickt, verstand sich dieser stets als Amerikaner, dessen republikanische politische Werte - Mühlenberg wurde 1789 erster Sprecher des Repräsentantenhauses - stärker vom "ideal of virtue" als von "the Pietist culture of Halle" (231) geprägt wurden. Zwei Beiträge zur Wirkungsgeschichte des Pietismus im 19. Jahrhundert in Preußen und Amerika von David Ellis und A. Gregg Roeber runden den Band chronologisch ab.
Auch Jonathan Strom formuliert einleitend zu dem von ihm mit herausgegebenen Band weitreichende Perspektiven auf das Thema. Strom betont besonders, dass das Pietismus-Thema über "potential for understanding the Atlantic world in the eighteenth century" (3) verfüge. Dies zu untermauern ist der Anspruch des zweiten hier anzuzeigenden Tagungsbandes, der Amerika und Deutschland gleichermaßen und über Halle hinaus auch die anderen Zentren des Pietismus, v.a. die Brüderunität, mit einbezieht. Wie bereits die Einleitung ist auch die erste Sektion des Bandes ("Defining Pietism") stark forschungs- und begriffsgeschichtlich ausgerichtet. Hartmut Lehmann ("Pietism in the World of Transatlantic Religious Revivals") betont die Notwendigkeit, den Pietismus in eine ganze Reihe von religiösen Erneuerungsbewegungen einzuordnen. Stephen J. Stein arbeitet eine Fülle von Forschungsdesideraten aus Sicht der amerikanischen Religionsgeschichte heraus, die sich des Pietismus' umfassender annehmen sollte. Donald F. Durnbaugh unterstreicht anhand von drei radikalpietistischen Gruppen (Philadelphians, Ephrata Society, Separatisten) die Schwierigkeiten eines 'idealtypischen' Pietismus-Begriffs, der den zumal in Amerika stets "spacious, trans-territorial and trans-confessional character of Pietism" (34) aus dem Blick verliert. Alexander Pyrges schließlich stellt "The Ebenezer Communication Network 1732-1828" vor und geht dabei insbesondere auf das vielgestaltige Korrespondenz- und Berichtswesen ein, das es erlaubt, solche transatlantischen Beziehungen näher zu erforschen.
Die beiden mittleren Sektionen des Bandes sind mit "Dissident and Migration" überschrieben. Zunächst wird das "Old World Heritage" aus Sicht dieses Begriffspaares behandelt. Hier finden sich Beiträge zu den Voraussetzungen und Bedingungen für die Entstehung nonkonformer pietistischer Denkweisen. So wird die pietistische Reise- und Austauschpraxis (Hans-Jürgen Schrader) ebenso behandelt wie die Idee der "Heimatlosigkeit" als wichtiger Voraussetzung für die grenzüberschreitende Verbreitung radikaler religiöser Gedanken (Douglas H. Shantz). Die Rolle der Frau im Pietismus wird am Beispiel der Johanna Eleonora Petersen thematisiert (Ruth Albrecht). In der nächsten Sektion wird unter der Überschrift "New World Confrontations" die Wirkung des Pietismus in Übersee exemplarisch untersucht. Nach einem generalisierenden Beitrag von Hermann Wellenreuther über Heinrich Melchior Mühlenberg und die Vielfalt des Pietismus in den nordamerikanischen Kolonien bietet der Band vor allem Lokalstudien, so zur Herrnhuter Siedlung Bethlehem (Beverly Prior Smaby und Katherine Carté Engel) und zur Konkurrenz zwischen Halle und Herrnhut bei der geistlichen Betreuung der Salzburger Protestanten in Georgia (Helene M. Kastinger Riley).
Den Abschluss machen in einer vierten, allerdings recht heterogenen Sektion Beiträge, die neue bzw. neu beleuchtete Felder der Pietismusforschung aufzeigen sollen ("New Directions in Research"). Diese reichen von der "re-evaluation" des Verhältnisses des Halleschen Pietismus zum preußischen Staat (Benjamin Marschke), die stärker auch die konfliktträchtige Seite berücksichtigt, über den Zusammenhang von pietistischen Endzeitvorstellungen und der Frage der Judenmission (Christopher Clark) bis zum allerdings geringen pietistischen Einfluss auf die Lutheraner in Salzburg vor deren Vertreibung (James Van Horn Melton). Auch die Rolle der Frau, in diesem Falle im württembergischen Pietismus, wird erneut thematisiert (Ulrike Gleixner). Gerade in dieser forschungsstrategisch ausgerichteten Schlusssektion wird deutlich, dass dieser Band vor allen Dingen an die angelsächsische religionsgeschichtliche Forschung gerichtet ist, die zukünftig - so Stephen J. Stein - "a greater sensitivity to the transatlantic dimensions of America's religious history" entwickeln sollte (28f.).
Die beiden vorliegenden Tagungsbände bereichern diesen transatlantischen Brückenschlag ganz ohne Zweifel. Die Mischung aus allgemeinen forschungs- und begriffsgeschichtlichen Artikeln und lokalen, neue Quellen präsentierenden Studien ist ausgewogen, wenngleich der von Grabbe herausgegebene, ganz auf den Halleschen Pietismus ausgerichtete Sammelband thematisch tendenziell geschlossener ist. Beide Bände sind vorzüglich redigiert, problemlos zu benutzen und bieten aktuelle Einblicke in Stand und Aufgaben der transatlantischen Pietismusforschung.
Anmerkungen:
[1] Siehe hierzu die unter transatlantischen Vorzeichen organisierte Tagung: Pietists and Lutherans in the Prerevolutionary and Revolutionary Atlantic World. An International Symposion on the Occasion of Henry Melchior Mühlenbergs 300th Birthday (August 2011 in Halle), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=16846.
[2] Zu Ziegenhagen und der Rolle Londons als Umschlagplatz von Informationen und Kontakten zwischen Halle und Amerika siehe: Tagungsbericht Networking across the Channel. England und der Hallische Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert. 10.03.2011-11.03.2011, Halle an der Saale, in: H-Soz-u-Kult, 04.07.2011, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3705.
Thomas Töpfer