Peter Dinzelbacher: Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler: Wissenschaftlicher Verlag Bachmann 2009, 138 S., ISBN 978-3-940523-06-8, EUR 25,90
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Warum-Fragen zu beantworten, zählt - zumal in der Geschichtswissenschaft - zu den anspruchsvollsten Herausforderungen der historischen Forschung. Das Fragezeichen im Titel setzte der Verfasser Peter Dinzelbacher zurecht und es ist nach der Lektüre des Buches auch keineswegs mehr wegzudenken: die Gründe für das politische Weinen bleiben vielschichtig und lassen sich nicht ohne unauflöslichen Rest erklären; Tränen hochstehender politischer Handlungsträger (nicht immer nur Könige) in besonders aufgeladenen Situationen bleiben ein Faszinosum.
Mit spitzer Feder zieht der Verfasser in seinen zwei überaus anregenden, zu einem Buch zusammengefassten Essays gegen den Panritualismus in der Mediävistik zu Felde: einerseits der politischen Ritualforschung mit ihrer scheinbar eindeutigen Interpretation von Tränen (11-78) und andererseits gegen überbewertete Wirksamkeit von Ritualen bei Krankenheilungen im Mittelalter (79-133). Im ersten Essay, der dem Buch den Titel gab, sucht der Verfasser festgefahrene und durch Wiederholung geradezu zum Axiom verdichtete Interpretationsansätze der mediävistischen Ritualforschung zu widerlegen. Weinen, so die Grundaussage, ist keine Spontanhandlung, die bewusst und als "inszenierte Pose" eingesetzt werden könne (12). Hierzu führt er in mehreren Kapiteln und umfangreich mit Anmerkungen versehen pointierte Gegenargumente an, die vor allem den historischen Quellenbefund, die (historische) Anthropologie und die Aussagen der zeitgenössischen Literatur. Zunächst zu den historischen Quellen. Um zu zeigen, dass politische Tränen keinen (Spiel-)Regeln folgten oder zumindest kein Ergebnis einer einstudierten Inszenierung seien, erwähnt er zahlreiche Beispiele aus dem Hochmittelalter (warum ausschließlich im Hochmittelalter?). Er sucht nach der "inneren Wahrscheinlichkeit" (26), wenn er beispielsweise die Tränen Kaiser Konrads II. vom Hoftag von 1035 in Mainz interpretiert, auf die hier stellvertretend genauer eingegangen werden soll. Konrad II. wollte Herzog Adalbero von Kärnten absetzen, doch sein Sohn Heinrich verweigerte ihm hierbei die Unterstützung, da er sich bereits zuvor dem Angeklagten verpflichtet hatte. Ein Brief eines Klerikers an Bischof Azecho von Worms informiert, dass der Kaiser lacrimis multum obtestatus seinen Sohn für die Absetzung gewinnen wollte. [1] Dinzelbacher erkennt in dieser Beschreibung den Nachweis für die Nichtanwendbarkeit ritueller Inszenierungspraktiken: "Offenbar hat sich in Wirklichkeit der Kaiser so über den Sohn aufgeregt, dass er tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlitt, und offenbar hat ihn das so bewegt, dass er sich nicht zurückhielt, Heinrich unter Tränen umzustimmen zu versuchen." Die gefundene Erklärung, ganz ohne Rhetorik von Ritual, Inszenierung, Theatralität und machiavellistischen Machenschaften schließt an die bisherigen Deutungen von Stefan Weinfurter oder Herwig Wolfram zu Konrad II. an. Insofern verfolgt Dinzelbacher an diesem Beispiel seine Intention, aus der heraus er das gesamte Buch schrieb: er mahnt zur umsichtigen und nicht monokausalen Interpretation historischer Situationen. Er zeigt, dass historisch vergossene Tränen auch ohne die Begrifflichkeiten von Spielregeln und Inszenierung beschrieben werden können. Denn gerade die Tendenz eines Panritualismus, also öffentliche Emotionalität stets mit Zweckrationalität politischer Handlungsträger zu erklären, ginge zu pauschal über tiefer liegende und komplexere Erklärungsversuche hinweg. Dies legt er insbesondere Gerd Althoff und weiteren ungenannten Forschern zur Last. Doch gerade am Beispiel Konrads II. unterläuft ihm ein Fehler der Quellenkritik. Der Briefschreiber kennt die Szene selbst nur vom Hörensagen (referentibus reperire nos contingit) und versucht zudem darin die Unrechtmäßigkeit des Kaisers zu erweisen (imperator iniuriam suam exposuit). Die Tränen sind damit bereits Topos, bevor sie als Hinweis auf spontane Emotionen oder als Hinweis eines kalkulierten Erweichenwollens interpretiert werden könnten. Dennoch weigert sich Dinzelbacher konsequent, ein Changieren von Tränen zwischen literarischem Topos und empirisch wahrnehmbaren Affekt anzuerkennen. Dies wird in seinem Kapitel zur historischen Anthropologie noch offensichtlicher. Als Ergebnisse der Lakrimologie / Heulforschung (36) stellt er eine biomechanische Berechenbarkeit von Stimulus und Reaktion fest, die (vor allem bei Männern) "weniger manipulativ" (41) eingesetzt werden können. Doch gilt das, was für Probanden in den psychologischen Seminaren zutrifft, auch für mittelalterliche Könige? Auch die zahlreichen Beispiele aus der mittelalterlichen Literatur, die angeführt werden, verdichten das Bild, dass häufig geheult wurde, vor allem aber nicht zu politischen Zwecken. Wenn also die neostoische Affektkontrolle, die insbesondere seit dem 19. Jahrhundert das Weinen als Zeichen der Schwäche (73) vielfach einen unvoreingenommenen Blick auf das Weinen verstellt, so dürfe gemäß Dinzelbacher, hinter Männertränen nicht gleich ein durchdachter oder strategischer Plan vermutet werden. Diese "Kurskorrektur" zur Deutung emotionaler Akte von Königen gerät zu einem verbalen Rundumschlag, der gegen Wissenschaftler ad personam, Standorte und Schulen angeht und damit ins Gegenteil ausschlägt, was die Korrektur eigentlich will: andere, differenzierte Erklärungsansätze zu Gehör bringen. Doch die Forderung, nach stillen Zwischentönen zu suchen, artet im polemischen Essay zum verbalen Tumult aus. Vielfach werden dabei Gerd Althoff Aussagen unterstellt (z.B. "Wenn man das nach den Althoff'schen Regeln analysiert" 32), die dieser so nicht machte.
Analog geht Dinzelbacher auch mit den Forschungen zu Heilritualen überkritisch ins Gericht, die er in seinem zweiten Essay behandelt. Dass man einem platten "Rituals transform sick persons into healthy ones" (79) keinesfalls zustimmen kann, sondern differenzierter nach Gründen für Heilungen (Substanzen, Sauberkeit etc.) fragen muss, zeigt Dinzelbacher deutlich. Hier präsentiert er Material bis weit in die frühe Neuzeit. Dennoch scheint er mit geradezu aufklärerischer Genauigkeit für die vormodernen Heilungen zu belegen, dass es dort Substanzen und nicht die gemurmelten Zaubersprüche gewesen seien, die eine Gesundung bewirkten. Autosuggestive, parapsychologische, medizinische und (auch heute nicht erklärbare) Spontanheilungen (128) wären als solche zu benennen, und nicht mit einem Modewort der Heilrituale.
Seine abschließend geäußerte Kritik, dass im Fach das "neu Entdeckte" überbewertet würde, dass Ritualen zu viel Aufmerksamkeit und zu viel Wirksamkeit zugeschrieben wird, und dass sie im Wissenschaftsbetrieb einseitig in übertriebenem Maße als Erklärung herangezogen werden (75) kann indes auch so gedeutet werden: Ritualverhalten im Blick zu behalten, gleich welches Thema behandelt wird, ist mittlerweile zum guten Ton geworden. Zu viel des Guten schränkt einen verstehenden Blick zu sehr ein. Hier wird man uneingeschränkt zustimmen. Allein, Mahner der disziplinären Ausgewogenheit befleißigen sich indes gewöhnlich nicht solch scharfer Worte.
Anmerkung:
[1] Ältere Wormser Briefsammlung, ed. W. Bulst (MGH Briefe der dt. Kaiserzeit 3, Hannover 1949) 51, Nr. 27.
Gerald Schwedler