Rezension über:

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Acta Borussica. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat. Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817-1934). Band 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen. Darstellung, Berlin: Akademie Verlag 2010, XXXIII + 784 S., ISBN 978-3-05-004656-3, EUR 198,00
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Rezension von:
Hans-Christof Kraus
Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Christof Kraus: Rezension von: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Acta Borussica. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat. Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817-1934). Band 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen. Darstellung, Berlin: Akademie Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/16623.html


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Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Acta Borussica. Neue Folge. 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat. Abteilung I. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817-1934)

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Die alten, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Gustav Schmoller begründeten 'Acta Borussica' wollten einst, so Wolfgang Neugebauer im Vorwort zur 2. Reihe der 'Neuen Folge', durchaus "nicht preußische Geschichte in einem engeren Sinne zum Selbstzweck machen", sondern sie verfolgten "in zunehmendem Maße [...] ganz ausdrücklich komparatistische Interessen". Auch das neue, seit einigen Jahren erfolgreich begonnene Berliner Akademievorhaben 'Preußen als Kulturstaat' fühlt sich dieser Maxime verpflichtet. Das zeigt besonders der Band 2.1, der nach den ersten Teilbänden, die eine Darstellung der Behörde und des leitenden Personals enthalten, nun die eigentlichen Wirkungsfelder wiederum in der Form von thematisch gegliederten Längsschnitten untersucht. Fünf Problemfelder (die zugleich die Großkapitel des Bandes bilden) werden abgehandelt: zuerst die Schulpolitik, sodann die Wissenschafts- und Hochschulpolitik, die Kirchenpolitik, die Kunstpolitik und abschließend die (erst im Jahr 1911 aus dem Kultusministerium ausgegliederte) Medizinal- und Gesundheitspolitik.

Die derzeit nur vier Mitarbeiter des Projekts haben die Schulpolitik im ersten Kapitel (1-134) gemeinsam behandelt, während die weiteren Themenkomplexe von jeweils einem Autor bzw. einer Autorin allein dargestellt werden. Wie schon seit den grundlegenden Forschungen Wolfgang Neugebauers zur "Schulwirklichkeit" im absolutistischen Brandenburg-Preußen bekannt ist, setzte erst im frühen 19. Jahrhundert eine umfassende staatliche Beaufsichtigung des Schulwesens ein. In dieser Zeit wurde der Staat wirklich "Schulherr" (3) im eigentlichen Sinne, denn "aufkommender Bildungsdrang erforderte eine neuartige Organisation der Bildung" (117). Der nicht mehr zu leugnende Reformstau, die Folgen der Niederlage gegen das napoleonische Frankreich und endlich auch die Bildungsideen des Neuhumanismus bestimmten in gleicher Weise die Herausbildung eines modernen gegliederten Schulwesens, dessen Grundzüge in Deutschland (so umstritten sie gegenwärtig sein mögen) noch heute bestehen. Als auf den ersten Blick etwas überraschend mutet die Erkenntnis an, dass eben diese Gliederung in elementare, mittlere und höhere Schulen ein Resultat war, "das der zentralen Schulverwaltung von verschiedensten gesellschaftlichen Kräften, Kommunen, Parteien und Verbänden sowie Interessenverbänden des städtischen Handwerks und Gewerbes im öffentlichen Diskurs abgerungen werden musste" (119). Überhaupt ist die - bereits von Neugebauer in der Einleitung zum Gesamtwerk nachdrücklich betonte - Tatsache erstaunlich, in welch starkem Maße die gesellschaftlichen Kräfte und die von ihnen ausgehenden Initiativen zur Entwicklung des Bildungswesens in Preußen maßgeblich mit beigetragen haben. Auch in anderen Bereichen damaliger Kultuspolitik ist dieser Einfluss mehr oder weniger deutlich spürbar gewesen.

Dem unerwartet starken gesellschaftlichen Einfluss auf die Schulangelegenheiten entsprach es in gewisser Weise, dass andererseits die staatlichen Initiativen manchmal zu wünschen übrig ließen. Von seiner Begründung im Jahr 1817 bis zu den Umgestaltungen des NS-Regimes um 1933/34 hat es das preußische Kultusministerium tatsächlich nicht vermocht, ein verbindliches allgemeines Unterrichtsgesetz zu erarbeiten und auf diese Weise die Schulbildung "in all ihren Bereichen [...] auf eine homogene legislative Basis zu stellen" (117). Ein auf den ersten Blick ebenfalls überraschendes Resultat betrifft auch die sogenannte 'Stiehlschen Regulative' (1854) aus dem Reaktionsjahrzehnt, in denen die Volksschulbildung sowie die Lehrerausbildung auf eine stark von christlich-konservativen Inhalten bestimmte Grundlage gestellt wurden. Nicht einmal zwanzig Jahre blieben diese, von liberaler Seite jahrelang besonders scharf kritisierten Regelungen in Kraft, und trotzdem bewirkten sie letztlich keineswegs einen wirklichen Rückschritt im Bildungswesen, sondern (so das auf den ersten Blick paradoxe Resultat der Untersuchung) sie trugen "sichtlich zu Vereinheitlichung und Rationalisierung im Massenschulwesen sowie zur Professionalisierung des Lehrerstandes bei" (44) - mit dem Ergebnis einer deutlichen Rückläufigkeit der Analphabetenquote. Vor und nach 1918 musste das Ressort im Bereich der Schulpolitik "zwischen starken Interessengruppen lavieren und ausgleichen, eine Mehrheit im Landtag gewinnen und nicht zuletzt [...] Finanzzwängen Rechnung tragen" (121) - und das ist im Grunde bis heute in Deutschland so geblieben.

Die im allgemeinen - vor allem für die Reformzeit ab 1807 und die 'Ära Althoff' um 1900 - besonders gut untersuchte staatliche 'Wissenschaftspflege' in Preußen wird noch einmal ausführlich, ebenfalls auf der Grundlage eines breiten neu erschlossenen Quellenmaterials, von Hartwin Spenkuch im zweiten Kapitel (135-287) dargestellt. Aus Zeit- und Platzgründen beschränkt er sich dabei auf die wichtigsten Teilaspekte des Themas: die Universitäten, Technischen Hochschulen, Forschungsinstitute sowie auf die außeruniversitären Forschungseinrichtungen; dagegen werden fachbezogene Hochschulen, Bibliotheken, auch die Archive nur peripher berührt - ein Verfahren, das im Rahmen einer zusammenfassenden Überblicksdarstellung, die zweifellos Schwerpunkte setzen muss, gerechtfertigt ist. Das einst von Max Weber so genannte (und kritisierte) 'System Althoff' wird in seiner Bedeutung von Spenkuch etwas relativiert, jedenfalls in den größeren Zusammenhang der Geschichte der Berliner Wissenschaftsverwaltung des 19. Jahrhunderts eingeordnet. Obwohl das Ministerium spätestens seit den Tagen strenger politischer Überwachung der großen Bildungsinstitutionen in der Folge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 das alleinige Letztentscheidungsrecht in allen universitären und akademischen Angelegenheiten besaß, wuchs doch auch hier der gesellschaftliche Einfluss, nicht zuletzt, wie Spenkuch in aufschlussreicher Weise zeigen kann, um und nach 1900, als die Entstehung von äußerst kostspieligen Großforschungseinrichtungen die Mittel privater Geldgeber und Spender dringend erforderlich machten. Insgesamt fällt die Bilanz auf diesem Gebiet besonders positiv aus, auch wenn der Autor am Schluss "die oft parteipolitisch konservative Gebundenheit des Führungspersonals" (270) moniert.

Etwas knapper wird im dritten Teil (289-397) die preußische 'Kultus'-Politik im eigentlichen Sinne, also die Kirchen- und Religionspolitik, von Christina Rathgeber dargestellt. Hierbei handelte es sich um einen durchaus brisanten Gegenstand, denn Preußen war bekanntlich mit den Gebietsveränderungen nach dem Wiener Kongress endgültig zu einem multikonfessionellen Staat geworden; vor allem im katholischen Rheinland und in Teilen Westfalens entstanden auf diese Weise konfessionelle Konfliktpotentiale, die den Staat vom Kölner Kirchenstreit bis zum Kulturkampf und über diesen hinaus immer wieder belastet haben. Um 1815 gehörten nur noch etwa 60 Prozent der preußischen Bevölkerung protestantischen Konfessionen (davon die große Mehrheit dem Luthertum) an, während die einstmals nur kleine katholische Minderheit jetzt immerhin einen Anteil von 39 Prozent erreichte; lediglich ein Prozent der Bevölkerung war jüdisch. Nicht nur die staatlichen Zusammenstöße mit der katholischen Kirche, auch die jahrzehntelangen Konflikte um die von Friedrich Wilhelm III. gewünschte reformiert-lutherische 'Union' sowie den wesentlich ebenfalls von ihm provozierten 'Agendenstreit' (um die vom Monarchen selbst ausgearbeitete und eingeführte neue evangelische Gottesdienstordnung), haben die 'Geistliche Abteilung' des Ministeriums jahrzehntelang intensiv beschäftigt. Dies alles wird hier noch einmal auf der Grundlage neu erschlossener Quellen (wenn auch partiell etwas knapp) dargestellt. Zu den wenigen wirklich gelungenen Maßnahmen des Ministeriums gehörte im Übrigen das 1847 verabschiedete 'Gesetz über die Verhältnisse der jüdischen Religionsgemeinschaft', das den öffentlich-rechtlichen Status der Synagogengemeinden erstmals begründete und absicherte.

Im bei weitem umfangreichsten - dem vierten - Kapitel des Bandes (399-634) rekonstruiert Bärbel Holtz sodann die bisher nur wenig und punktuell (etwa für die Zeit nach 1918) bearbeitete Kunstpolitik des Ministeriums, die zuerst lediglich eine kleine Nische bildete, sich im Laufe der Jahrzehnte jedoch ins Zentrum der ministeriellen Bemühungen vorschob, was sicherlich, wie die Autorin zu Recht betont, mit den mentalen Veränderungen seit der Reformzeit und den nach 1800 aufgekommenen neuhumanistischen Ideen zusammenhängt, denn Kunst wurde nun "als ein Bildungswert begriffen und sollte nicht länger als privater Bereich unabhängig vom staatlichen Leben existieren. Kunst- und Kulturpflege rückten somit [...] in den anerkannten Bereich der Staatstätigkeit. Die Politik sollte Möglichkeiten schaffen, damit Kultur sich breiter entfalten könne" (401). Und das bedeutete nicht zuletzt, dass die Kunst nicht mehr nur dem engeren Umfeld der 'höfischen' Sphäre angehörte, sondern in immer stärkerem Maße von gesellschaftlichen Impulsen und Aktivitäten bestimmt wurde. Alle diese Kräfte zu bündeln und zu kanalisieren, sie mit dem Staatsinteresse in einen förderlichen Zusammenhang zu bringen, war die Aufgabe, der sich die Kunstabteilung des Ministeriums zu widmen hatte. Das betraf in Preußen vor allem die bildenden Künste, deren Angelegenheiten von zumeist hochqualifizierten Beamten mit bedeutender Expertise geregelt wurden. Zu den wichtigsten Ergebnissen der Studie von Bärbel Holtz zählt die Herausarbeitung der exzeptionellen Stellung und Leistung Franz Theodor Kuglers, der seit 1843 einen entscheidenden und prägenden Einfluss auf die preußische Kunstpolitik ausübte (451ff.). Vor allem auf sein Wirken geht die um die Jahrhundertmitte handlungsleitende Maxime zurück, das Ministerium solle "die Künste nicht nur verwalten, sondern deren Rahmenbedingungen und Teile des Kunstlebens auch aktiv gestalten" (610).

Abschließend behandelt Reinhold Zilch in einem wieder etwas knapperen Kapitel (635-746) die preußische Medizinal- und Gesundheitspolitik, die nur zwischen 1817 und 1911 ein Bestandteil des Ministeriums war, anschließend ins Innenministerium ausgegliedert wurde. Es ist klar, dass die Gesundheit mit dem Beginn der Industrialisierung einen besonders hohen Stellenwert bekam, "denn sie war unabdingbare Voraussetzung, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können" (636). Der ökonomische Aufschwung erforderte gesunde Arbeitskräfte, aber auch die demographischen Veränderungen, das rasche Wachstum der Städte "sowie der sich vervielfachende Waren- und Personenverkehr schufen neue Notwendigkeiten öffentlicher Daseinsvorsorge hinsichtlich allgemeiner Hygiene sowie Seuchen- und Umweltschutz" (728). Frühere Erfahrungen, etwa die der verheerenden Choleraepidemie von 1830/31, beförderten besonders nachhaltig die staatlichen Bemühungen um eine Verbesserung der Lebensbedingungen und der gesundheitlichen Vorsorge. Jetzt ging es nicht mehr nur um die Bekämpfung vorhandener Krankheiten, sondern in verstärktem Maße um Krankheitsverhütung. Das umfasste etwa den Bau moderner Krankenhäuser, die Einrichtung örtlicher Gesundheitsämter, die Begründung staatlicher Anstalten zur Überprüfung der Trinkwasserversorgung - und anderes mehr. Alle diese in Preußen unternommenen Maßnahmen und Anstrengungen eines staatlichen 'Medizinalwesens' waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts derart erfolgreich, dass sie in nicht wenigen anderen damals aufstrebenden Ländern nachgeahmt wurden, etwa in Japan.

Ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnisse sind den einzelnen Kapiteln beigegeben; im Anhang befinden sich wiederum Tabellen und Statistiken, welche die besonderen Leistungen der Berliner Kultuspolitik besonders in den Bereichen der Schul- und Hochschul- bzw. der Wissenschaftspolitik empirisch untermauern. Kritisch bleibt anzumerken, dass die Darstellungen z.T. von recht unterschiedlicher Ausführlichkeit sind; vor allem den Abschnitt über die - auch in sozial-gesellschaftlicher und politischer Hinsicht besonders wichtige - Kirchenpolitik hätte man sich etwas ausführlicher gewünscht. Und auch die anfangs eingeforderte komparatistische Komponente kommt am Ende doch ein wenig zu kurz, was freilich ebenfalls mit dem Fehlen thematisch ähnlicher Studien zusammenhängen mag. Zum Vergleich: Die einzige größere und auch archivalisch fundierte Darstellung zur Geschichte des Münchner Kultusministeriums von 1847 bis 1945 von Hermann Rumschöttel umfasst ganze 57 Seiten! Es bleibt daher abschließend fraglich, ob eine Rekonstruktion und Analyse der Kultuspolitik anderer deutscher Staaten und Länder in dieser Breite überhaupt durchführbar ist; nur die im preußischen Fall besonders reichhaltigen und (wenigstens in den meisten Bereichen) weitgehend vollständig erhaltenen Quellenbestände haben es möglich gemacht. Jedenfalls wäre es sehr zu wünschen, wenn das Berliner Akademieunternehmen 'Preußen als Kulturstaat' in der Form eines Pilotprojekts Vorbild für ähnliche Unternehmungen werden könnte. Ob dies so sein wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall - das darf schon heute gesagt werden - hat das von Wolfgang Neugenauer wesentlich inspirierte und geleitete Großprojekt bereits jetzt Maßstäbe gesetzt, die an alle künftigen wissenschaftlichen Unternehmungen von vergleichbarer Thematik anzulegen sein werden.

Hans-Christof Kraus