Michael Spang: Wenn sie ein Mann wäre. Leben und Werk der Anna Maria van Schurman (1607-1678), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 240 S., ISBN 978-3-534-21630-7, EUR 39,90
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Anzuzeigen ist eine Biographie der Anna Maria van Schurmann (1607-1678), einer der schon zu Lebzeiten weithin gerühmten "Gelehrten Frauen" Europas. Ihr Ruhm bewegte über die Gelehrtenrepublik hinaus die religiösen Reformbewegungen des ausgehenden 17. Jahrhunderts und die Debatten um Frauenbildung, verkam aber seit dem 18. Jahrhundert zu einem Irrlicht.
Michael Spang stellt Leben und Werk van Schurmanns in sieben Kapiteln nach. Von der Geburt in Köln an, wohin sich ihr Großvater, wohl ein Kaufmann und seine adelige Frau aus Antwerpen, auf der Flucht vor der Verfolgung ihres reformierten Glaubens 1593 gerettet hatten, steht beides unter zwei "Maßvorgaben" (28): Religion und Wissenschaft. Frederik van Schurmann, ihr wohlhabender und gebildeter Vater, konnte den standesgemäßen Lebensstandard halten und den vier Kindern eine gründliche, umfassende häusliche Ausbildung bieten. In ihrer auf lateinisch abgefassten Autobiographie Eukleria oder die Wahl des besseren Teils (1673, deutsch 1783) zählt die einzige Tochter rückblickend auf: Arithmetik, Schreiben, Musik, Singen, künstlerische Techniken, Lateinisch, Französisch, Wissenschaften (30f).
1615 kehrt die Familie nach Utrecht zurück. Das Projekt des Vaters und eines Bruders, Johan Godschalks, an der Universität Franeker die Vorlesungen von William Ames (1576-1633), eines Begründers des Puritanismus, zu hören, findet durch den Tod des Vaters 14 Tage nach der Immatrikulation ein jähes Ende, führt die Tochter aber zu einem "spirituellen, von mystischen Elementen geprägten Christentum" (40), auch wenn sie sich, zurück in Utrecht, zunächst als Künstlerin einen Namen macht. Ihre Porträts und Gedichte bringen sie in Kontakt mit Gelehrten und Dichtern wie Cats, Huygens, Heinsius und Barleus, mit Elisabeth von der Pfalz, der Tochter des "Winterkönigs", mit Künstlerinnen der städtischen Oberschicht. Bei aller gesellschaftlichen Anerkennung hält van Schurmann an ihrem Vorhaben fest, ehelos zu bleiben. Sie treibt ihre Studien der Theologie und der orientalischen Sprachen voran und erhält die Möglichkeit, als Frau - in einem eigens für sie gebauten Verschlag - die Vorlesungen des Theologen Gisbert Voetius zu hören. Voetius trat für die "Nadere reformatie", die "zweite Reformation", in den Niederlanden ein: Das ganze Leben sollte von Glaubensprinzipien geprägt sein, von einer "im Alltag gelebten Frömmigkeit" (60). Die ihr gewährte Ausnahme "steigerte abermals die Bekanntheit van Schurmanns" (61). Sie erlernt weitere Sprachen, studiert antike Geschichtsschreiber, Naturphilosophie, Philosophie und Logik, nimmt zur Prädestinationslehre und zum Sinn der Medizin Stellung. Ihre Briefe öffnen ihr die Netzwerke der res publica literaria. Bereits 1636 erhält sie den Auftrag, das lateinische Eröffnungsgedicht zur Gründung der Universität Utrecht zu schreiben.
Das Gedicht schneidet das Thema an, das in den 1640-er Jahren van Schurmanns Ruf als Vorkämpferin für das Recht der Frauen auf Bildung begründete, die Frage nach dem Ausschluss der Frauen aus den Universitäten. Was 1636 noch eine irritierende Feststellung bleibt, entfaltet ihre Dissertatio de Ingenii Muliebris ad Doctrinam (1641) im Einzelnen. Diese führt die gesellschaftliche Bedeutung der Frauenbildung ins Feld, kritisiert die Tradition, die die Frauen aus dem akademischen Bereich ausschließe, und begründet ihr Plädoyer für die Bildung der Frauen mit der Gottähnlichkeit des Menschen: "Da es ferner nicht weniger zur Pflicht als auch zum Glücksstreben aller gehört, nach der (von keinem von uns erreichten) Vollendung unserer allerursprünglichsten Schöpfung zu streben, müssen wir uns in besonderem Maß darum bemühen, dass in der höchsten Burg unseres Geistes das Bild dessen, der Licht und Wahrheit ist, mehr und mehr widerzuscheinen beginnt" (92f.). Spang hält fest, dass es van Schurmann, die die Bildung der Frauen auf alle Fächer ausgedehnt wissen wollte, nicht um eine "Gleichstellung der Frau" ging (93), sondern um ein religiös begründetes "Ideal geistiger Vervollkommnung" (94). Die Dissertatio bleibt "ihr einziges wissenschaftliches, philosophisch-theologisches Werk, das eigenständig konzipiert, veröffentlicht und als solches rezipiert wurde" (130). Kein Wunder, dass sie die seit dem Mittelalter virulente Querelle des femmes um die Minderwertigkeit der Frauen weiter anheizt.
Ab der Mitte der 1640-er Jahre setzt eine "religiöse Neubesinnung" (132) ein. Obwohl van Schurmann weiter künstlerisch und karitativ tätig ist, obwohl 1648 eine erste Ausgabe ihrer Opuscula einen Querschnitt ihrer Schriften bietet - die Dissertatio, die Abhandlung zur Prädestinationslehre, Briefe von ihr und an sie, Prosa und Gedichte in mehreren Sprachen - und Begeisterung wie Polemik auslöst, zieht sie sich aus den Debatten mit Freunden und Gelehrten zurück. Religiöse Gedichte über die Jesus-Minne entstehen, sie will fromm leben, unabhängig von gesellschaftlicher Anerkennung (140). Bezeichnend ist die Aufnahme eines Briefes des griechisch-orthodoxen Bischofs von Ephesus Meletios Pantogalos (1595-1645) in die dritte Ausgabe der Opuscula 1653. Dieser preist ihre religiöse Lebensführung, insbesondere ihre "Jungfräulichkeit" (149). Sie ahme nicht nur die Gottesmutter Maria, sondern auch Maria, die Schwester Marthas, nach, die sich dem Lukasevangelium zufolge gegen das Irdische für die Beschäftigung mit Jesu Wort entschieden habe. Dass sie damit den "besseren Teil" gewählt habe, wird titelgebend für van Schurmanns Autobiographie.
Als 1653 ein längerer Aufenthalt in Köln Gerüchte einer Konversion zum Katholizismus in Umlauf bringt und in Utrecht die Auseinandersetzungen um eine Reform des Calvinismus härter werden, wird die Situation der van Schurmann in Stadt und Gemeinde schwierig. Die Bekanntschaft Johan Godschalks mit Jean de Labadie (1610-1674) führt letztlich zum definitiven Anschluss der Schwester an den religiösen Erneuerer und Sektenführer. Sie "transformiert" ihr Leben in "ein neues, wiedererwecktes Leben, das nun der Hingabe an Gott allein dienen soll" (163). Van Schurmann tritt aus der reformierten Kirche Utrechts aus, sie zieht 1669 nach Amsterdam, in ein eigenes, "etwas abgesondertes Zimmer" (183) in Labadies Haus, und trägt fortan alle Fluchtbewegungen der Sekte mit. Sie besorgt 1670-1672 das Exil auf dem Territorium der Elisabeth von der Pfalz in Herford, wo die rund 50 Mitglieder zu Morgen- und Abendandachten sowie den Predigten Labadies zusammenkommen, aber wegen ihrer Lebensführung bald ausgewiesen werden. Man wendet sich nach Altona, wo Labadie 1674 stirbt, dann nach Walta/Wieuwerd in Friesland, wo die Sekte einen Landsitz beziehen kann, auf dem van Schurmann 1678 verstirbt. Van Schurmann wird zu einer der Säulen der Gruppe: Sie verbreitet Labadies Schriften, porträtiert und forscht, hält Kontakt zu anderen Reformgruppen, etwa zu den Frankfurter Pietisten um Philipp Jakob Spener (1635-1705) und Johanna Eleonora von Merlau (1644-1724). Die Eukleria ist nicht nur ihre Autobiographie, sondern gleichzeitig eine Rechtfertigungsschrift der Labadisten und Werbung für sie - van Schurmann schickte ihr im Selbstverlag gedrucktes Werk alten und neuen Freunden.
Zu bedauern ist, dass das wichtige Buch darauf verzichtet, etwa die zeitgenössische Frömmigkeitspraxis oder die Geschlechterfrage eigens zu diskutieren, Zitate konsequent zu belegen und Werk und Forschung nur in Auswahl nachzuweisen.
Helga Meise