Markus Iff: Liberale Theologie in Jena. Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts (= Theologische Bibliothek Töpelmann; Bd. 154), Berlin: De Gruyter 2011, XIII + 417 S., ISBN 978-3-1102-4780-0, EUR 119,95
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Albrecht Ritschl / Wilhelm Herrmann: Briefwechsel 1875 - 1889. Herausgegeben von Christophe Chalamet, Peter Fischer-Appelt u. Joachim Weinhardt in Zusammenarbeit mit Theodor Mahlmann, Tübingen: Mohr Siebeck 2013
Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack 1875-1889, Tübingen: Mohr Siebeck 2010
Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums, Berlin: De Gruyter 2012
Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden in den Evangelisch-theologischen Fakultäten Mitteldeutschlands die unterschiedlichen Spielarten der der Aufklärung und den Impulsen des Idealismus verpflichteten Theologie durch Erweckung und Konfessionalismus an den Rand gedrängt oder gar ausgestoßen. Eine Ausnahme bildete das kleine Jena. In der Nachbarschaft von Berlin, Halle, Leipzig und Erlangen geriet es in eine Position, welche an die eines gewissen Dorfes im Nordwesten des römisch okkupierten Gallien erinnert. Das Selbstbewusstsein der Fakultät, in Festreden reichlich dokumentiert, spiegelt diese Situation ebenso getreulich wider wie der konstant schlechte Ruf Jenas in der konservativen kirchlichen Presse.
Mit dem Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Fronten: An Albrecht Ritschls systematischem Hauptwerk mit seinem Anschluss an die eigenwillig verstandene Bibel, die Reformation und an bestimmte Aspekte der Philosophie Kants bildete sich eine durchsetzungskräftige Schule ambitionierter junger Theologen. Diese erklärten herkömmliche kategoriale Orientierungsfragen für irrelevant und bauten das theologische Denken auf neue, vereinfachte Grundlagen. So erhoben sie den Anspruch, sowohl den herkömmlichen Konfessionalismus als auch die in die Jahre gekommene Liberale Theologie zu überbieten und zu beerben. "Jena" blieb auch in dieser neuen Konfliktkonstellation das Markenzeichen für eine Richtung protestantischer Theologie, die an den von Schleiermacher und Hegel gelegten Fundamenten festhielt und, an neue philosophische Bewegungen anknüpfend, hier die Kategorien für die geschichtliche Deutung der christlichen Religion sowie für die Begründung ihres gegenwärtigen Geltungsanspruchs gewann. Diese Gemeinsamkeit bot intellektueller Individualität weiten Raum. In Jena wurden positionell deutlich differente Theologieprogramme vertreten, deren Protagonisten sich allerdings einig waren in ihrer Ablehnung von Schulzwängen, Sprachregelungen und Denkverboten.
Um die aparte Stellung Jenas war es geschehen, als Hans Hinrich Wendt, ein Schüler Albrecht Ritschls, 1893 Lehrstuhlnachfolger von Richard Adelbert Lipsius (1830-1892) wurde; dieser hatte seit den frühen 70er Jahren Karl (von) Hase (1800-1890) als Haupt der Fakultät abgelöst.
Iff perpetuiert in seiner Arbeit, einer Jenenser theologischen Dissertation, das Jenaer Selbstbewusstsein im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, indem er eine spezifisch jenaische Theologie (re)konstruiert. Zu diesem Behufe formiert er als Untersuchungsgegenstand eine Kohorte von sechs Theologen, die in jener Zeit in Jena wirkten. Eigentlich passt nur einer von ihnen richtig ins Schema, nämlich Adolf Hilgenfeld: Er habilitierte sich 1847 in Jena und blieb dann volle 60 Jahre bis zu seinem Tode, wurde jedoch erst Ordinarius, als Hase, der ihn nicht leiden konnte, gestorben war. Auch der Exeget Adalbert Merx habilitierte sich in Jena, blieb allerdings nur vier Jahre als Privatdozent. Lipsius kam 1871 aus einem Ordinariat, ebenso die Alttestamentler Ludwig Diestel und Eberhard Schrader, die aber jeweils nur wenige Jahre blieben - wie der in Tübingen gebildete Pfleiderer, der aus dem Pfarramt kam und schon bald nach Berlin wechselte. Zumal die als Systematiker profilierten Pfleiderer und Lipsius repräsentierten höchst unterschiedliche Spielarten "liberaler" Vermittlungstheologie. Auffällig ist, wer in Iffs Kohorte fehlt: Neben Franz Overbeck, Hermann Weingarten und Paul Wilhelm Schmiedel v.a. Bernhard Pünjer (vgl. den hinreißenden Art. in ADB 56, S. 146-153), ein echtes Jenaer Gewächs: Als er 1885 mit 30 Jahren starb, hatte er doch schon ein deutliches Profil als Religionsphilosoph.
Maßgeblich für Iffs Auswahl ist sein systematisches, mit dem (fakultäts-) geschichtlichen nicht wirklich ausgeglichenes Leitinteresse: Er will die Interdependenzen zwischen dogmatischen Prolegomena / Religionsphilosophie und Hermeneutik / Exegese untersuchen und unterzieht die genannten (zeitweiligen) Jenenser dazu einem vergleichenden Verhör in vier Gängen (Philosophie / Theologie, religionspsychologische und religionsgeschichtliche Verankerung der Theologie, anthropologische Rückbindung der Theologie, Theorie der Exegese / Hermeneutik). Richtig passend ist dieses Schema eigentlich nur für Pfleiderer und für Lipsius, die zu allen diesen Themen gewichtige Beiträge vorgelegt haben. V.a. Lipsius, ein eminent gebildeter, kluger und fleißiger Mann, war nach heutigen Begriffen vollgültiger Neutestamentler, Kirchenhistoriker und Systematiker. Er ließ sich nicht nur mit prinzipientheoretischen Fanfarenstößen vernehmen, sondern setzte die Tragfähigkeit seiner Theorieansätze der Bewährungsprobe am materialen Stoff der Dogmatik und in der Predigt aus; seine normativen Leitbegriffe für einen herkunftsbewussten und modernitätsoffenen Protestantismus brachte er publizistisch mutig zur Geltung. Auch begnügte er sich nicht mit hermeneutischen Absichtserklärungen, sondern exegesierte - u.a. des Apostels Paulus Römer-, Galater- und Philipperbrief in einem renommierten Kommentarunternehmen. Das stand unter der Ägide von Heinrich Julius Holtzmann (1832-1910), der zwar nie in Jena gelehrt hat, aber mit der enzyklopädischen Spannweite seiner Arbeitsgebiete in seiner Generation wohl der "liberale" Universaltheologe schlechthin war, also genau das, was weder der emsige Adolf Hilgenfeld war noch die anderen zeitweilig in Jena tätigen Exegeten, die Iff wegen gelegentlicher hermeneutischer Grundsatzüberlegungen in seine Untersuchung einbezieht: Sein systematisches Interesse hätte Iff wohl in höherem Maße befriedigen können, wenn er die Fakultätsgeschichte zurückgestellt und Holtzmann oder Lipsius eine klassische Werkbiographie gewidmet hätte, die eben nicht bloß bei programmatischen Sonntagsreden verweilt, sondern den Meistern auch intensiv bei der Alltagsarbeit über die Schultern schaut.
Stattdessen hat sich Iff mit seinem zwieschichtigen, nicht wirklich ausgeglichenen Arbeitsprogramm die Nötigung eingehandelt, eine Furcht erregende Vielzahl von theoriegeschichtlichen Entwicklungssträngen zu verfolgen - von den unterschiedlichen idealistischen Ansätzen der Bewusstseins- und Religionstheorie bis zu den Debatten um die Ausbildung der Assyriologie. Mit den Ergebnissen dieser Kreuz- und Querzüge wird er bei den jeweiligen Fachleuten kargen Dank ernten, denn wer vermag das alles, gar als Doktorand, gründlich zu übersehen? Hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen, und das gilt auch für die erstaunlich hohe Zahl von bibliographischen und anderen Schludrigkeiten.
Es klang schon an: Die in Jena, aber, wie die Mitarbeiterverzeichnisse der Jenaer "Jahrbücher für Protestantische Theologie" zeigen, auch in Kiel, Marburg, Gießen, Bonn, Heidelberg und Straßburg sowie in den Niederlanden und der Schweiz betriebene Liberale Theologie hatte seit den 70er Jahren ihren schärfsten und lebenskräftigsten Gegner in der Schule Albrecht Ritschls. Diese Frontstellung hätte sehr viel deutlicher berücksichtigt werden müssen - einmal wegen der Frage, wo hier der Plausibilitätsüberschuss lag, dann aber auch im Blick darauf, dass das Eindringen liberaltheologischer Impulse die Schule Ritschls spaltete - victi victoribus leges dederunt! Darum vermögen auch Iffs abschließende Überlegungen zur Präsenz liberaltheologischer Fragestellungen in gegenwärtigen Debatten nicht wirklich zu überzeugen - da wäre doch auf so bedeutsame Mittelglieder wie den späten Ritschl-Schüler Ernst Troeltsch hinzuweisen, in jungen Jahren ein eifriger Mitarbeiter an Pünjers und Lipsius' "Theologische[m] Jahresbericht". So hat diese Arbeit zweifelsohne ihren Wert - allerdings mehr in den Fragen, die sie aufwirft, als in den Antworten, die sie gibt.
Martin Ohst