Rezension über:

Winfried Baumgart (Hg.): Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883-1885. Eine Quellensammlung (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 40), Berlin: Duncker & Humblot 2011, 539 S., ISBN 978-3-428-13371-0, EUR 78,00
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Rezension von:
Ulrich Lappenküper
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Lappenküper: Rezension von: Winfried Baumgart (Hg.): Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883-1885. Eine Quellensammlung, Berlin: Duncker & Humblot 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/20625.html


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Winfried Baumgart (Hg.): Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883-1885

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Kaum ein Bereich des Wirkens Otto von Bismarcks wird noch 110 Jahre nach seinem Tod so kontrovers diskutiert wie seine Kolonialpolitik. Würde man den kakophonen Chor der beteiligten Historiker nach Stimmen ordnen, ließen sich vier "Tonlagen" unterscheiden. Eine erste, von Henry A. Turner Jr. vertretene, reklamiert für das kolonialpolitische Abenteuer des ersten deutschen Reichskanzlers kurzfristige, im Vorfeld der Reichstagswahl vom Herbst 1884 liegende innenpolitische Gründe. [1] Nach Hartmut Pogge von Strandmann war für die 'Fahrt nach Übersee' hingegen die langfristige Überlegung einer außenpolitischen Kanalisierung innenpolitischer Energien ausschlaggebend. [2] Hans-Ulrich Wehler schreibt Bismarck die Absicht zu, sich aus gesellschaftlichen Gründen auf das kolonialpolitische Feld begeben zu haben, um den inneren Stillstand durch äußere Bewegung abzufedern. [3] Lothar Gall wiederum vertritt die Auffassung, der Reichskanzler habe mit Hilfe der Kolonialpolitik einen "Ausgleich mit Frankreich" zu Lasten von England gesucht. [4] Nach Meinung Axel T. G. Riehls inszenierte Bismarck demgegenüber in der Kolonialpolitik eine deutsch-englische Krise, um sich dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm als Krisenbändiger unentbehrlich zu machen und ihm die Unmöglichkeit eines "Kabinetts Gladstone" nach einem etwaigen Ableben des greisen Kaisers vor Augen zu führen. [5] Dieser "Kronprinzen-These" Riehls hat Klaus Hildebrand die Frage entgegengestellt, wieso Bismarck die Kolonialpolitik 1885 glaubte ad acta legen zu können, obwohl es doch damals nur zu einer "höchst fragilen Ausgleichung der Gegensätze zwischen dem Kronprinzenpaar und der 'Dynastie Bismarck' gekommen war". Wichtiger als die "Domestizierung des Kronprinzenpaares" erscheint Hildebrand in Übereinstimmung mit Gall die Absicht, "über das Mittel der Kolonialpolitik den Ausgleich mit Frankreich" herzuleiten. [6]

Auf der Basis des von seinem Schüler Riehl ausgewerteten Aktenmaterials legt Winfried Baumgart nun eine Quellensammlung vor, mit der er selbstbewusst meint, das "Rätselraten um die Hauptgründe für den deutschen Kolonialerwerb beendet" zu haben (5). Baumgarts Edition umfasst 350, zum überwiegenden Teil erstmals veröffentlichte Dokumente aus insgesamt siebzehn deutschen und ausländischen Archiven, wobei sie bemerkenswerterweise kein Schriftstück aus den Frankreich-Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts enthält. Bereits andernorts publizierte werden nicht im Wortlaut, sondern in regestierter Form wiedergegeben. Folgt man diesem versiert und sorgfältig annotierten "repräsentativen Querschnitt durch das Motivgeflecht für den deutschen Kolonialerwerb" (6) bestand der zur "Kronprinzen-These" verdichtete Motivstrang Bismarcks aus sechs Elementen: der Absicht zur Umbildung des Reichstags in antiliberalem Sinne; der Entfernung liberal gesinnter Personen aus dem Umfeld des Kronprinzen, namentlich des Hofmarschalls Karl von Normann; der Wiederbelebung alter preußischer Verfassungsinstitutionen in konservativem Sinne; der Beteiligung des Kronprinzen an wichtigen Regierungsgeschäften; der Minderung des englischen Einflusses auf die deutsche Außenpolitik und damit verbunden der Bekämpfung der englischen Kolonialpolitik.

Im Grunde war Bismarcks Kolonialpolitik demnach lediglich "Mittel zum Zweck" (12), die deutsch-englischen Beziehungen so lange zu belasten, bis der verhasste Premierminister Gladstone abgelöst und dem Kronprinzen bewusst geworden sei, dass nur der Reichskanzler als "Hexenmeister" (51) dazu in der Lage sein würde, die Spannungen abzubauen. Die Bedenken Hildebrands in Bezug auf das abrupte Ende der Kolonialpolitik glaubt Baumgart mit Hilfe der vorgelegten Quellen "schlüssig" ausräumen zu können: Die Reichstagswahlen seien "gewonnen", wichtige kolonialpolitische Forderungen gegenüber England durchgesetzt, Gladstone abgelöst und der kooperationsbereite französische Ministerpräsident Jules Ferry gestürzt worden. Schließlich seien der Kronprinz und die Kronprinzessin "so stark 'weichgeklopft', daß Bismarck die hohe Gewißheit bekam, der Thronwechsel werde ohne seine Entlassung vonstatten gehen" (13).

Nach der spannenden Lektüre der Quellen kann kein Zweifel bestehen, dass Bismarck in den hier dokumentierten Jahren
- mit der Aufgabe seiner preußischen Ämter und der Reaktivierung des preußischen Staatsrats unter dem Vorsitz des Kronprinzen einen Umbau des Verfassungssystems in seinem Sinne beabsichtigte,
- mit der Verhinderung einer Ehe zwischen der Tochter des Kronprinzen, Prinzessin Viktoria, und dem Fürsten Alexander von Bulgarien den Einfluss der Kronprinzessin einzudämmen bemüht war und
- mit der Kolonialpolitik die Reichstagswahlen zu beeinflussen hoffte.

Ebenso klar wird aber auch, dass
- die Versetzung Normanns auf beiderlei Wunsch erfolgte,
- Bismarcks Widerstand gegen die Battenberger-Hochzeit vor allem der Sorge um negative Rückwirkungen auf das Verhältnis zu Russland entsprang und
- die Reichstagswahlen von 1884 ihm allenfalls einen relativen Erfolg bescherten.

Weitet man den Blick über die hier versammelten Dokumente hinaus und bezieht die jüngst veröffentlichten Bände der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" der "Gesammelten Werke" Bismarcks und die Edition der Akten des französischen Außenministeriums mit ein [7], wird außerdem deutlich, dass von dem von Baumgart behaupteten "plötzlichen Einstieg in die Kolonialpolitik" (23) nur bedingt die Rede sein kann. Bismarck war auch nicht "bis 1883 prononciert antikolonial eingestellt" (5). Seine Zurückhaltung rührte vielmehr aus der negativen Erfahrung mit der Samoa-Vorlage von 1880 und der Furcht vor mangelnder Unterstützung durch den Reichstag. Als sich die innenpolitische Stimmungslage wandelte, akzeptierte der Reichskanzler den Erwerb von Kolonien, wodurch sich rasch ein Machtkonflikt mit England ergab, der weniger von ihm denn von der liberalen Londoner Regierung mit Gladstone und Granville an der Spitze befeuert wurde. Wenngleich Bismarck Gladstone mit abgrundtiefem Hass verfolgte, wollte er ihn nicht, wie Baumgart darlegt, "zum Sturz bringen" (25), da der Bestand des Kabinetts seines Erachtens Englands "Schwäche [...] nach außen" festigte. [8] Mit dem von ihm gleichwohl begrüßten Regierungswechsel zu Salisbury im Frühjahr 1885 hielt denn auch kolonialpolitisch keine "vollständige Entspannung" (27) im deutsch-englischen Verhältnis Einzug, wie die Dokumente über die Zanzibarfrage und das Ringen um die Walfischbai verdeutlichen.

Zuzustimmen ist Baumgart darin, dass der Phase der deutsch-englischen Krise 1884/85 "eine deutsch-französische Entspannung [...] korrespondiert, indes keineswegs eine freundschaftliche Allianz". Nimmt man die in der "Neuen Friedrichsruher Ausgabe" abgedruckten Dokumente aus den Frankreich-Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts und die französische Aktenedition mit in den Blick, kann von "reine[r] Funktionalität" (48) aber keine Rede sein, wenngleich Bismarck wie auch die Entscheidungsträger in Paris ihr Misstrauen über die Tragfähigkeit der Entente nie vollständig ablegten. Das "Rätselraten um die Hauptgründe für den deutschen Kolonialerwerb" scheint folglich keineswegs beendet.


Anmerkungen:

[1] Henry Ashby Turner Jr.: Bismarck's Imperialist Venture. Anti-British in Origin?, in: Prosser Gifford / Wm. Roger Louis (Hg.): Britain and Germany in Africa. Imperial Rivalry and Colonial Rule, New Haven / London 1967, 47-82.

[2] Hartmut Pogge von Strandmann: Domestic Origins of Germany's Colonial Expansion under Bismarck, in: Past and Present 42 (1969), 40-159.

[3] Hans-Ulrich Wehler: Bismarck und der Imperialismus, Köln / Berlin 1969.

[4] Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980, 620.

[5] Axel T. G. Riehl: Der "Tanz um den Äquator". Bismarcks antienglische Kolonialpolitik und die Erwartung des Thronwechsels in Deutschland 1883 bis 1885, Berlin 1993, 498.

[6] Klaus Hildebrand: Deutsche Außenpolitik 1871-1918, 3., überarb. u. um einen Nachtrag erweit. Aufl., München 2008, 132f.

[7] Otto von Bismarck, Gesammelte Werke, Neue Friedrichsruher Ausgabe [NFA], Abteilung III: 1871-1898 Schriften Bd. 2: 1874-1876; Bd. 3: 1877/78; Bd. 4: 1879-1881; Bd. 5: 1882/83; Bd. 6: 1884/85, Paderborn u. a. 2005, 2008, 2010 u. 2011; Ministère des affaires étrangères. Commission de publication des documents relatifs aux origines de la guerre de 1914 [Hrsg.], Documents Diplomatiques Français (1871-1914), 1 série (1871-1900), Bd. V (23 février 1883 - 9 avril 1885); Bd. VI (8 avril 1885 - 30 décembre 1887), Paris 1933 u. 1934.

[8] Bismarck an Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 30.1.1885, in: NFA, Bd. 6, 473.

Ulrich Lappenküper