Niall Ferguson / Charles S. Maier / Erez Manela u.a. (eds.): The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2010, XIII + 434 S., ISBN 978-0-674-04904-8, EUR 27,00
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Vielleicht war die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion für den Rest der Welt ja gar nicht so entscheidend. "A more global and transnational perspective reveals that long before the end of the East-West struggle, interdependent capital markets, population growth and movement, environmental challenges, new media, and international and nongovernmental organizations were combining to cause radical change of a recognizably new kind," schreibt Matthew Connelly in seinem Beitrag zu diesem Sammelband (337), den vier namhafte Harvard-Historiker als Herausgeber mit einer eindrucksvollen Schar weiterer großer Namen vornehmlich aus den USA organisiert haben. Im führenden Internetportal H-Diplo wurde der Band ausführlich und kontrovers diskutiert. [1]
Im Zentrum stehen die 1970er Jahre, die in einem sinnvollen Zusammenhang wohl nur als die mehr oder weniger langen Siebziger aufgefasst werden können. Nur für bestimmte Fragenkomplexe, die von der Aktenfreigabe von Ministerien etc. abhängen und sich vorwiegend um Entscheidungsprozesse drehen, ist ja solche "Schneepflug-Historie" im Abstand einiger Jahrzehnte einigermaßen sinnvoll. Bei fast allen anderen, zumal strukturellen oder mentalen Themen sind Jahrzehnte ohnehin nur Hilfskonstruktionen. Das fällt beim Titel dieses Bandes auf, der doch gerade nicht politikgeschichtlich argumentiert - und die meisten Autoren halten sich auch gar nicht an das Jahrzehnt. Ein weiterer Teil des Titels ist problematisch: der Schock. Gab es den wirklich? Niall Ferguson müht sich in der Einleitung damit, titelt aber seinerseits mit einem zeitgenössischen Zeitungsbeitrag: "Crisis, What Crisis?" Er selbst wundert sich anhand von Statistiken für vorangehende und folgende Jahrzehnte, dass das zeitgenössische Etikett der Wirtschaftskrise so lange Bestand hat. Eine Antwort gibt er mit Charles Maier, der das selbst in dem Band elaboriert: Es habe im 20. Jahrhundert drei große Krisen gegeben. Vor dem Ersten Weltkrieg sei eine Krise der politischen Repräsentation zu konstatieren, die dann in den Krieg führte; in den 1930er fand eine "crisis within capitalism" statt, die den Zweiten Weltkrieg hervorbrachte. In diese Reihe passten die 1970er Jahre als Krise der Industriegesellschaft, die den Dritten Weltkrieg vielleicht nur knapp vermieden habe, weil in Ost und West der Eintritt in eine "postindustrielle Gesellschaft" stattfand. Dieses zeitgenössische Schlagwort Daniel Bells taucht in vielen Beiträgen auf und markiert eine der Zäsuren.
Andere Autoren bewegen sich auf dem Feld politischer und kultureller Krisen, sprich: sie handeln von Anpassungsprozessen, die hier dokumentiert sind. Maier selbst vermeidet den Begriff der Krise, der - aus der Medizin stammend - den entscheidenden Punkt fasse, an dem die Medizin wirke oder der Tod eintrete. Er bevorzugt den französischen Begriff der "malaise", die er im Kapitalismus der 1970er Jahre festmacht, ohne wirklich darin eine Kriegsgefahr auszumachen.
Eine dritte Kritik gibt es am Titel: Was "the global" oder auch "globalization" ist, wird nicht definiert, da es zu viele Deutungen davon gab. Was hier vorgeführt wird, ist bei etlichen Aufsätzen nicht einmal "the west and the rest" (so lautet Fergusons neuester Buchtitel), sondern primär ein US-zentrischer Blick. [2] Das sagt noch nichts über die Qualität der zum größten Teil ausgezeichneten, oft populärwissenschaftlich formulierten Aufsätze, die einen problemorientierten Überblick über zahlreiche Sachfragen geben. Aber wenn z. B. Francis J. Gavin die "nuclear revolution" des Jahrzehnts neu prüft, hätte man sich nicht nur eine differenzierte Entfaltung der inneramerikanischen Debatten gewünscht, sondern auch zumindest eine Einbeziehung der Sowjetunion, über die wir mittlerweile einiges wissen. Ähnliches gilt für die "Dritte Welt", die von Mark A. Lawrence primär aus der Sicht des US-amerikanischen Umgangs mit ihr wahrgenommen wird.
Da die Autoren aus guten Gründen je sektoral zugreifen, bleibt letztlich unklar, worin denn - wenn schon nicht der Schock, so doch - die Krise bestand. Ein anderer Rezensent [3] hat bereits gefragt, was denn so wichtig war: Dengs Besuch in den Vereinigten Staaten (Odd Arne Westad), die Ölkrise von 1973 (Daniel Sargent, Stephen Kotkin), die Wirtschaftskrise (Alan Taylor), das nukleare Gleichziehen der Sowjetunion (Gavin), die Transformation der Welt in eine globale Gesellschaft (Glenda Sluga, Erez Manela). Angesichts der breiten Behandlung der Wirtschaftskrise (sechs Beiträge) fällt auch bei anderen Autoren auf, dass eine Deregulierung der Weltwirtschaft und die schwindende Fähigkeit, die Finanz- und Warenmärkte zu beherrschen, die zentrale Rolle spielte. Für manche Autoren geht das einher mit dem Verlust der US-Hegemonie in diesen Sektoren und einer neuen Unübersichtlichkeit, in der nicht mehr die führenden Wirtschaftsstaaten, sondern transnationale Organisationen dominierend sind.
An diesem Punkt zeichnen sich bei mehreren Autoren auch weniger krisenhafte Einschätzungen ab: Wachsende Partizipation durch NGOs fällt darunter (sie wird als Zäsur für Human Rights von Michael Cotey Morgan berücksichtigt), die neue Rolle der UNO (Glenda Sluga) oder das Aufkommen von "Environmentalism" (John R. McNeill). Erez Manela greift ein kaum beachtetes Phänomen auf: die Ausrottung der Pockenkrankheit, der jährlich drei Millionen Menschen zum Opfer gefallen seien. Dies gelang, weil der Westen und der Osten mitmachten, aber auch die aufkommende Dritte Welt oder der globale Süden positiv an dem Programm mitwirkten. Hier wird es auch für weitere Forschungen spannend: Gab es solche, den Ost-West-Konflikt überwölbende Zusammenarbeit auch in anderen Fragen, die zeitgenössisch weniger wahrgenommen wurden? Wo blieben Ebenen von Konfrontation jenseits der militärischen Rüstungen bestehen, wo wurden diese abgebaut - und wenn ja, warum? Eine Matrix aus Ost-West-Kooperation und -Konflikt, ebenso im West-Süd-Verhältnis wäre nützlich. Nur erste Bausteine finden sich in dem Band versammelt.
Ein weiterer Punkt ist bemerkenswert: Lawrence legt dar, dass sich die Regierungen der 1970er Jahre, voran Nixon und Kissinger, nur wenig für die Dritte Welt interessierten. Gleichwohl gaben sie zunehmend dem wachsenden Druck von "intergovernmental organizations" (ihre Zahl wuchs diesem Autor zufolge zwischen 1972 und 1984 von 1.530 auf 2.795 und der NGOs nach Anstieg im selben Zeitraum von 2.795 auf 12.686). Religiöse Organisationen spielten dabei gerade in den USA eine große Rolle, wie Andrew Preston hervorhebt. An anderer Stelle legt Ayesha Jalal "Islam's contemporary globalization, 1971-1979" dar. Die Autorin verdeutlicht, dass es nicht nur um die vom Westen wie Osten unterschätzte Revolution im Iran 1979 ging, sondern dass gerade in und um Pakistan eine von den USA betriebene Förderung des Islams als Teil des Krieges gegen die Sowjetunion in Afghanistan eine verhängnisvolle Rolle spielte (die bis heute andauert). Das ist für westliche Leser wirklich erhellend. Könnte es sein, dass eine Wiedererstarkung von religiösen Kräften insgesamt eine wichtige Zäsur dieser Jahre markiert?
Ziel der Herausgeber ist es, auch kulturelle Kontexte zu thematisieren. Das geschieht recht selektiv: Der Aufsatz über das internationale Frauenjahr (Jocelyn Olcott) nimmt sich der Genderfrage eher am Scheitern der missionarischen US-Feministin Betty Friedan an. Zur Rockmusik des Jahrzehnts arbeitet Rebecca J. Sheehan zwei Dinge heraus: einerseits setzt sie diese stark mit Sexualität und sexueller Befreiung gleich, zum anderen stellt sie einen Hang dieser Musik zur "redemption", zur (innerweltlichen?) Erlösung heraus - wieder ein Hinweis auf die gerade genannten Bindekräfte. Matthew Connelly schließlich gibt einen Überblick über die zunehmenden Zukunftsentwürfe und -planungen, die auf allen Ebenen vor allem in den USA (aber gewiss nicht nur dort) langfristige Visionen entwickelten, um die Welt zu gestalten. Gerne hätte man gewusst, wie sich das zu den vorangegangenen und folgenden Jahrzehnten verhielt.
Was bleibt? Es liegt ein Band vor, der im bunten Methoden- und Ansatzmix sehr viele lesenswerte Beiträge, nur gelegentlich zu flapsig formuliert, bündelt. Das kann man überwiegend als Einführung in den sektoralen Wandel in der Welt lesen. Sie bleiben aber auch ein wenig beliebig und liefern letztlich kein Gesamtbild von diesem Vorgang, der sich in und um die 1970er Jahre vollzog. Ein Schock war es jedenfalls nicht durchgehend. Vielleicht sind sektorale Zugänge in einer Art Patchwork aber auch unserem derzeitigen Erkenntnisstand angemessen und machen die zumindest partielle Historisierung einer Zeit möglich, die viele noch als Zeitgenossen erlebt haben. Viel bleibt noch zu tun; dem eingangs zitierten Anspruch Connellys wird der Band nur z. T. gerecht. Aber man kann sich von ihm sehr gut anregen lassen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. http://www.h-net.org/~diplo/roundtables/PDF/Roundtable-XI-49.pdf
[2] Auch in Deutschland wird die Debatte über das Jahrzehnt intensiv geführt, vgl. als Vorreiter Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte, 2., erg. Auflage, Göttingen 2010 (mit vornehmlich westeuropäischem Blick), Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008 (aus deutscher Perspektive).
[3] Rüdiger Graf in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-039
Jost Dülffer