Albrecht Classen (ed.): Handbook of Medieval Studies. Terms - Methods - Trends, Berlin: De Gruyter 2010, 3 vol., 2736 S., ISBN 978-3-11-018409-9, EUR 599,00
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Mittelalterstudien erfreuen sich allergrößter Beliebtheit. Geforscht wird weltweit, die Publikationsflut ist schwer zu überblicken. Längst richtet sich der Blick nicht mehr allein auf Westeuropa. Das "Alte Europa" sieht sich einer Konkurrenz ausgesetzt, die in vielen Bereichen durchaus stimulierend wirkt. Neue Methoden und Trends werden von einer globalen "scientific community" aufgegriffen, angewandt und diskutiert - Zeit für eine Bestandsaufnahme, für die der in den USA lehrende, aus Deutschland stammende Mediävist Albrecht Classen verantwortlich zeichnet. Seine erklärte Absicht ist es, den "state of art in medieval studies" unter Einbeziehung der historischen Entwicklung des Faches bzw. der Fächer abzubilden. Die von ihm gewählte - klassische - Form ist die eines Handbuches: drei in rotes Leinen gebundene, über 2700 Seiten umfassende Bände sind Ergebnis dieses sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgesprochen ambitionierten Projekts.
In seiner fundierten Einleitung führt Classen nicht nur in Zielsetzung und Aufbau seines Werks ein, sondern beschreibt auch eindrücklich die Schwierigkeiten, mit denen er als Hauptverantwortlicher bei dessen Organisation und Koordinierung konfrontiert war. Dies macht es für Rezensenten nicht immer einfach, substantielle Kritik an der Struktur des Handbuchs selbst zu üben, werden die meisten Einwände von Classen doch bereits selbst benannt und erläutert.
Das Handbuch tritt mit der erklärten Absicht an, den Diskurs über das Mittelalter seit dem 18. Jahrhundert zu erfassen, die Entwicklung der einzelnen Forschungsfelder zu beschreiben und die verwendeten Quellen und Methoden zu skizzieren. Der verwendete Begriff "Mittelalterstudien" (Medieval Studies) erscheint dabei als Herausforderung, finden sich unter einem einzigen terminologischen Dach doch so unterschiedliche Bereiche wie Literatur, Mode, Kunst, Religion, Bankwesen oder Landwirtschaft vereint.
Classen selbst zeichnet für einen einleitenden Überblick über die für das Mittelalter relevanten Referenzwerke verantwortlich (Survey of fundamental reference works in medieval studies, XXV-LXVII). Anspruch auf Vollständigkeit wird bei der Auflistung und knappen Bewertung der auf immerhin rund 40 Seiten abgehandelten Handbücher und Lexika zwar nicht erhoben, gleichwohl dient der Abschnitt einer ersten Orientierung im nach wie vor rasch anwachsenden Informationsbestand des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Das Handbuch gliedert sich in vier Großabschnitte: 1. Hauptthemen bzw. -disziplinen (Main topics and debates of the last decades and their terminology and results), 2. Begriffe (Important terms in today's medieval studies), 3. Textgenera des Mittelalters (Textual genres in the Middle Ages), 4. Schlüsselfiguren innerhalb der Mittelalterstudien (Key figures in Medieval Studies from ca. 1650 to 1950).
Der erste Abschnitt umfasst 90 Einträge von "Arabic and Islamic studies" über "Feminism" bis hin zu "Welsh Studies". Der Anspruch, einen konzisen Abriss über die Geschichte der jeweiligen Disziplin, die für diese maßgeblichen Werke und Organisationsstrukturen zu bieten, wird in nahezu allen Beiträgen eingelöst. Herausragendes wie Wendy Pfeffers Beitrag über "French Studies" (I, 565-580) oder Theo Kölzers Ausführungen zur Diplomatik (I, 405-424) stehen aber gleichwohl - unvermeidbar in einem Handbuch, an dessen Entstehung über 190 Autoren mitwirkten - neben schwächeren Beiträgen. In den meisten Artikeln ist das Bemühen spürbar, interdisziplinäre Anschlussfähigkeit und Internationalität unter Beweis zu stellen, was sich nicht zuletzt an den im Text inserierten Literaturangaben und der Kurzbibliographie am Schluss eines jeden Artikels ablesen lässt. Mitunter scheinen hier jedoch die Sprachkenntnisse mancher Autoren deutlich ausbaufähig zu sein.
Peter Dinzelbacher setzt in seinem Beitrag zu den "Religious Studies" (II, 1184-1201) ganz auf die "latest trends in the field" (1184), liefert einen konzisen und ausgewogenen, wenn auch mitunter subjektiven Überblick über die Forschungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte und bietet so das Musterbeispiel eines Handbuchartikels. In seinem knappen, der Ordensgeschichte gewidmeten Abschnitt vermisst man freilich den Verweis auf die Franziskaner, die als Forschungsgegenstand international mindestens ebenso prominent wie die Zisterzienser vertreten waren und sind. Und wäre hier nicht auch ein knapper Verweis auf die noch immer erstaunliche Fülle qualitativ hochwertiger Ordenszeitschriften, die nicht nur Maßstäbe, sondern mitunter auch Trends setzen, angebracht gewesen?
Der vergleichsweise schmale zweite Abschnitt, in dem sich zentrale Begrifflichkeiten behandelt finden, umfasst 25 Einträge, deren Spannbreite von "aesthetics" über "body", "gestures" und "laughter" bis hin zu "typology" und "violence" reichen. Viele der "turns", die den Wissenschaftsbetrieb in den letzten Jahrzehnten maßgeblich prägten, finden sich hier versammelt. Die Beiträge folgen in ihrem Aufbau zumeist dem Muster "Definition - Abriss der Forschungsgeschichte - Hauptwerke - aktuelle Forschungen" und geben einen kurzen, gleichwohl instruktiven Einblick in den jeweiligen Begriff.
Der dritte, den Textgenera gewidmete Abschnitt ermöglicht Einblicke in so unterschiedliche Textsorten wie die "Adversus-Iudaeos"-Literatur, Stundenbücher, Dits oder Schulbücher und Sprichwörter. Herausragend ist hier sicherlich der den Chroniken gewidmete Artikel von Graeme Dunphy (II, 1714-1722), in dem sich in bewundernswerter Balance die Erschließung von und der Umgang mit chronikalischem Material über die Jahrhunderte beschrieben findet.
Dieser forschungsgeschichtliche Überblick fällt leider nicht überall gleichermaßen ausführlich aus. Im von Robert W. Zajkowski verantworteten Eintrag zur mittelalterlichen Predigt (Sermons, III, 2077-2086) führt dies dazu, dass der Leser zwar erschöpfend über die in den letzten drei Jahrzehnten publizierten Hauptwerke informiert und auf laufende Forschungsvorhaben verwiesen wird - die derzeit wohl prominenteste Predigtforscherin, Nicole Bériou, findet sich bedauerlicherweise an keiner Stelle erwähnt -, jedoch große Mühen hat, eine klare Vorstellung davon zu gewinnen, was formal unter Predigt überhaupt zu verstehen ist. Im Grunde hätten zwei Sätze gereicht, um den idealtypischen Aufbau einer Predigt zu verdeutlichen und damit zentrale Begrifflichkeiten von thema über prothema bis hin zur distinctio einzuführen - Begrifflichkeiten, die ja ihrerseits in den erwähnten Werken der Sekundärliteratur allesamt prominent mitbehandelt werden und den Forschungsdiskurs mitgeprägt haben. Vielleicht hätte dem ersten Bestandteil des Handbuch-Untertitels - "Terms" - mitunter stärker Rechnung getragen werden können, um so bei aller Würdigung erbrachter Forschungsleistungen den Abstand zum eigentlichen Forschungsgegenstand nicht allzu groß werden zu lassen.
Der letzte Abschnitt ist gleichzeitig wohl der problematischste. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird darin zwar nicht erhoben: ob die darin angeführten Schlüsselfiguren aber tatsächlich in jedem Falle repräsentativ für das Fach sind, darf bezweifelt werden. Die Ungleichgewichte sind eklatant: 194 Persönlichkeiten wurden insgesamt aufgenommen, davon sind nicht weniger als 89 schwerpunktmäßig dem Bereich der Philologie bzw. Literatur zuzuordnen. Germanistische Mediävisten kommen hier auf ihre Kosten. Deutschen Forschern ist mit 56 Einträgen das Gros der Personenartikel gewidmet, während sich die amerikanische, französische oder englische Forscherwelt durch jeweils nur rund 20 Einträge gewürdigt sieht. Unter den rund 60 Forschern, die das breite Spektrum von (Kunst-)Geschichte, Philosophie und Theologie vertreten, finden sich neben den bekannten Namen - von Georges Duby über Horst Fuhrmann bis Steven Runciman - erfreulicherweise auch Persönlichkeiten wie Jean Leclercq (III, 2454-2457). Leider versäumt es hier der Autor, die für die Fachwelt maßgebliche Ausgabe der opera omnia Bernhards von Clairvaux zu erwähnen, für die Jean Leclercq verantwortlich zeichnete. Und auch Leclercqs frühe Ausflüge in das Gebiet der "psycho-history" und "emotions" hätten etwas mehr als einen Halbsatz verdient gehabt. Überhaupt findet sich die Kirchengeschichte etwas stiefmütterlich behandelt. Weder Jean Mabillon noch Jean-Paul Migne werden erwähnt, was insofern erstaunt, als Mignes Patrologia latina im Verlauf des Handbuchs immer wieder zitiert wird.
Der Herausgeber verweist in seiner Einleitung bereits auf die große quantitative Diskrepanz der einzelnen Beiträge - und doch springt einiges (auch wenn es nicht zwangsläufig in der Verantwortung des Editors liegen mag) ins Auge. Benötigen die beiden Autoren Christian Kuhn und Walter Ysebaert genau 23 Seiten, um die Lemmata "Briefe" und "Briefsammlungen" abzuhandeln (Letters, III, 1881-1897; Letter collections, III, 1897-1904), widmet Hiram Kümper dem Themenkomplex "Rechtstexte" (Legal texts, III, 1878-1881) gerade einmal vier Seiten. Gleiches gilt für die benachbarten Einträge zur Bibelexegese (Biblical exegesis, I, 137-145) und Botanik (Botany, I, 145-181). Die Gründe für solcherlei Disproportionalität bleiben im Dunkeln.
Neben dem Gebiet des Rechts - insbesondere die Kanonistik fristet eine Randexistenz - ist die Religion bzw. Theologie als zweite große Leerstelle innerhalb des Gesamtwerks anzusprechen. Eine umfangreiche Überblicksdarstellung findet sich nicht, anstatt dessen wurde auf Zersplitterung gesetzt. Der Leser ist also gezwungen, sich diesen Überblick durch die Lektüre so unterschiedlicher Artikel wie "Biblical exegesis", "Crusader historiography", "Eschatology", "Mysticism", "Popes and papacy" oder "Religious Studies" selbst zu verschaffen. Das Lemma "Theology" (Christian) bleibt seltsam blass. Die Suche des Rezensenten nach einer forschungsgeschichtlichen Einordnung der Dichotomie "monastische / scholastische Theologie", heiß umstritten in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, blieb leider erfolglos.
Der beständige Prozess des Lesens, Interpretierens, Kanonisierens und Dekonstruierens in den mediävistischen Fächern bedingt neben dem für die Realisierung eines solchen Projektes nötigen "langen Atem", dass eine im Handbuch präsentierte Bestandsaufnahme in vielen Fällen bereits zum Zeitpunkt der Drucklegung wieder veraltet sein kann. Dies gilt im hier vorliegenden Handbuch nur in wenigen Ausnahmefällen. Das Gesamtwerk hat Schwächen - was bei einem Projekt solchen Umfangs erwart- und eigentlich auch unvermeidbar ist. Diese Schwächen sollten allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass mit dem "Handbook of medieval studies" nun tatsächlich ein Hilfsmittel vorliegt, mit dessen Hilfe eine hochspezialisierte und ausdifferenzierte Forschungslandschaft in all ihren Facetten bequem erfasst, verstanden und gewürdigt werden kann. Besonders hervorgehoben werden sollte die Einbeziehung derjenigen Fachgebiete, die sich mit dem nicht-christlichen Mittelalter beschäftigen. Wie viel hier in den letzten Jahrzehnten in Bewegung gekommen ist, wird eindrucksvoll demonstriert.
Als Einzelkämpfer agierend, ohne nennenswerte finanzielle und logistische Unterstützung, ist es dem Herausgeber gelungen, seine im Vorwort formulierte Absicht zu verwirklichen. Trotz aller berechtigter Kritik im Detail wird in diesem Handbuch der "state of art" der Mittelalterstudien überzeugend abgebildet. Disproportionalitäten, Ungenauigkeiten, Fehler und Lücken können in einer zweiten Auflage korrigiert werden.
Ralf Lützelschwab