Roland May / Wolfgang Voigt (Hgg.): Paul Bonatz 1877-1956, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2010, 320 S., 480 z.T. farb. Abb., ISBN 978-3-8030-0729-2, EUR 49,80
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Das Werk des deutschen Architekten Paul Bonatz hätte wohl auch in den kommenden Jahrzehnten ein Schattendasein gefristet, wäre es durch die politischen Auseinandersetzungen um das ambitionierte Projekt Stuttgart 21 nicht unverhofft wieder in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten. Bekanntlich entzündete sich an den Plänen zum Neubau des Stuttgarter Bahnhofs und dem damit verbundenen Teilabriss des bestehenden Bahnhofgebäudes von Paul Bonatz eine verbissen geführte Debatte zwischen den Befürwortern des Projektes und seinen Gegnern. Die besonderen Qualitäten des 1928 fertiggestellten Bauwerks gerieten damit wieder in den Fokus des Interesses, was eine erneute Auseinandersetzung mit dem Architekten und seinem Hauptwerk begünstigte.
Als das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main 100 Jahre nachdem Bonatz' Büro den Wettbewerb um den Stuttgarter Bahnhof gewann, die Ausstellung "Paul Bonatz 1877-1956. Leben und Bauen zwischen Neckar und Bosporus" zeigte, mochten daher nicht wenige eine vom Tagesgeschehen geprägte Auseinandersetzung mit dem Werk des Architekten erwartet haben. Wer indessen den begleitenden Katalog studiert, wird in dieser Hinsicht weitestgehend enttäuscht. Die von Wolfgang Voigt und Roland May herausgegebene Publikation schlägt einen betont sachlichen Ton an. Das keineswegs unumstrittene Werk des Architekten soll erstmals in angemessener Weise jenseits schematischer Verurteilungen und unter Einbezug der schwierigen biografischen und historischen Umstände gewürdigt werden.
Dies geschieht in 11 teils thematisch, teils chronologisch angeordneten Kapiteln, in denen die versammelten Autoren den Versuch unternehmen, die verschiedenen Lebensphasen des Architekten und Facetten seines Werkes im Wechselspiel mit den jeweils herrschenden politischen und kulturellen Verhältnissen darzustellen. Die "frühen Erfolge" (Karl Kiem) des Protagonisten der so genannten "Stuttgarter Schule", die Sektkellerei Henkel (1909) und die Stadthalle Hannover (1912-1914) werden darin ebenso gewürdigt wie der bereits erwähnte Stuttgarter Hauptbahnhof (Matthias Roser) mitsamt seinen orientalischen Anleihen (Marc Hirschfell) sowie die zahlreichen nachfolgenden Projekte in Deutschland, Spanien und der Türkei. Vervollständigt wird das Porträt durch Roland Mays Aufsatz über Bonatz als Lehrer der TH Stuttgart und Entwerfer zahlreicher Ingenieursbauten sowie Claus Käpphingers Ausführungen zu Bonatz als Städtebauer.
Wenngleich dies alles wichtige Kontexte sind, um das Werk Bonatz' einordnen zu können, kommt insbesondere dem Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus eine zentrale Bedeutung zu. Lässt sich doch kaum übersehen, dass Bonatz Zeit seines Lebens einem Monumentalismus huldigte, der spätestens nach 1933 endgültig seine Unschuld verloren hatte. Dass sich der Architekt zudem stets kritisch gegenüber einer unbedingten Parteinahme für das Neue Bauen geäußert hatte, erschwerte die Rezeption seines Werkes zusätzlich und führte nicht selten zu einer oberflächlichen Verurteilung als Architekt des Nationalsozialismus. Die Tatsache, dass ausgerechnet Friedrich Tamms, der enge Mitarbeiter Albert Speers, noch während des 'Dritten Reiches' die für lange Zeit einzige Monografie zu Bonatz verfasste, dürfte einer unvoreingenommenen Rezeption ebenfalls kaum förderlich gewesen sein.
Es ist vor allem dem einleitenden Beitrag Wolfgang Voigts zu verdanken, dass nun ein weitaus differenzierteres Bild des Architekten entstanden ist. Unter der Überschrift "Kosmopolit in den Unwettern der Zeit" widmet sich Voigt unter anderem den politischen Orientierungsversuchen des Architekten unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg. Darin wird vor allem Paul Bonatz' Abneigung gegenüber doktrinären Programmatiken deutlich, sei es innerhalb der Politik, sei es innerhalb der zeitgenössischen Debatten um eine neue Architekturästhetik. So engagierte sich Bonatz während der Novemberrevolution in sozialdemokratischen Kreisen um kurze Zeit später aus der SPD auszutreten. Auch dem Arbeitsrat für Kunst trat er trotz Aufforderung nicht bei und übte stattdessen Kritik an den gesamtkünstlerischen Visionen einiger seiner Mitglieder. Ein Jahr vor der Eröffnung der wegweisenden Weißenhofsiedlung in Stuttgart kritisierte er nicht zu Unrecht, dass die ausgestellten Bauten eher einer neuen Ästhetik verpflichtet seien, als dass sie zukunftsweisende Lösungen für das Wohnungsproblem anböten. 1926 trat Bonatz dann aus dem Werkbund aus, um gemeinsam mit Schmitthenner und Schultze-Naumburg zwei Jahre später den "Block" zu gründen, den er allerdings 1930 wegen dessen Radikalisierung nach rechts wieder verließ.
Als Professor der TH Stuttgart geriet Bonatz nach 1933 zunehmend wegen kritischer Äußerungen ins Visier der NSDAP. Wie der Beitrag von Roland May herausarbeitet, hatte sich Bonatz zuvor um eine grundlegende Erneuerung der Architektenausbildung bemüht, die zumindest in den 1920er-Jahren von einer respektvollen Distanz gegenüber dem Neuen Bauen geprägt war. Ersten Anfeindungen und Denunziationen war Bonatz bereits 1932 ausgesetzt, weil er einen jüdischen Assistenten beschäftige. Wegen seiner Kritik an den Restriktionen des Lehrbetriebes musste er sich gar einem Verhör der Gestapo unterziehen und entkam nur knapp einer Gerichtsverhandlung.
Als praktizierender Architekt wurde Bonatz erst wieder gegen Ende der 1930er-Jahre rehabilitiert. Wie Roland May in einem weiteren Beitrag zeigen kann, kamen Bonatz insbesondere die Erfahrungen im Ingenieurbau zugute. Vermehrt wurde er mit Aufträgen insbesondere für Brückenbauten betraut. Dabei vertrat der Architekt vergleichsweise naiv die Überzeugung, seine kritische Haltung gegenüber dem Regime ließe sich auch dann noch bewahren, wenn er demselben zu einem monumentalen Ausdruck verhalf. Erst sehr spät im Jahr 1943 trat Bonatz die "Flucht vor dem Wahnsinn" an und begann eine zweite nicht minder erfolgreiche Karriere in der Türkei.
Dieser späten Phase im Leben des Architekten widmet sich der Beitrag Burcu Dogramacis. Darin zeigt sich Bonatz nun endgültig als ein "Meister des Übergangs" (Voigt), dessen Architektur über alle kulturellen und politisch-ideologischen Differenzen hinweg von einer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit geprägt ist. Mit der gleichen Leidenschaft mit der Bonatz zuvor an die erzieherische Wirkung seiner Architektur glaubte, widmete er sich jetzt der Durchsetzung einer nationalen Baukunst, in der sich der türkische Neohistorismus mit dem Monumentalismus deutscher Provenienz verband. Dieses Rezept überzeugte offenbar derart, dass Bonatz noch während des Zweiten Weltkrieges zu einem der wichtigsten Architekten des Landes aufstieg. Als Gutachter bestimmte er maßgeblich die Repräsentationsarchitektur des noch jungen türkischen Staates und 1946 erhielt er gar eine Professur an der TU Istanbul. Erst mit der zunehmenden Orientierung der türkischen Architektur an den USA in den Nachkriegsjahren sank Bonatz' Stern allmählich, was ihn letztlich zu einer späten Rückkehr nach Deutschland bewegte.
Dem insgesamt sorgfältig gestalteten Katalog gelingt es überzeugend, das vielschichtige Porträt eines Architekten zu zeichnen, der sich als "Meister des Übergangs" über alle Systemwechsel hinweg behauptete. Bonatz war weder begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus noch dessen radikaler Kritiker. Und während seiner Zeit in der Türkei verstand er sich nicht etwa als Emigrant, sondern als ein Architekt, der gegenüber der deutschen "Baukultur" auch weiterhin loyal war und der versuchte, seine Arbeit in der neuen Umgebung möglichst bruchlos fortzusetzen. Wie in vielen anderen vergleichbaren Fällen ist sein Denken von einem heute nur noch schwerlich nachvollziehbaren Glauben in die erzieherische Wirkung der Baukunst geprägt, wobei die Grenzen zum Opportunismus zweifellos fließend sind. In diesem Zusammenhang wäre es übrigens aufschlussreich gewesen, Bonatz' Architektur- und Wortbeiträge während der legendären Darmstädter Tagung "Mensch und Raum" (1951) in die Reflexion seiner Position einzubeziehen. Mit nahezu grotesker Ignoranz gegenüber der architektonischen Einschüchterungsrhetorik der Nationalsozialisten verspottet er darin gewohnt eloquent den nach dem Krieg verständlichen und keineswegs abwegigen Versuch, die moderne Architektur als Ausdruck eines neuen Menschenbildes begreifen zu wollen. Bonatz selbst hielt mit seinem Entwurf einer Tonhalle für die begleitende Ausstellung mit beängstigender Konsequenz auch weiterhin am Monumentalen, dem "harten Gesetz der Baukunst" (Friedrich Tamms), fest.
Carsten Ruhl