Rezension über:

Alexander Nagel / Lorenzo Pericolo (eds.): Subject as Aporia in Early Modern Art, Aldershot: Ashgate 2010, XVI + 257 S., ISBN 978-0-7546-6493-2, GBP 60,00
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Rezension von:
Valeska von Rosen
Institut für Kunstgeschichte, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Valeska von Rosen: Rezension von: Alexander Nagel / Lorenzo Pericolo (eds.): Subject as Aporia in Early Modern Art, Aldershot: Ashgate 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/05/18812.html


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Alexander Nagel / Lorenzo Pericolo (eds.): Subject as Aporia in Early Modern Art

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Diesseits und jenseits des Atlantiks hat die Forschung in den letzten Jahren verstärkt Strategeme der Vagheit, semantischen Offenheit und Ambiguität in den Bildkünsten der Frühen Neuzeit in den Blick genommen. So auch in dem neuen, von Alexander Nagel und Lorenzo Pericolo herausgegebenen Band "Subject as Aporia in Early Modern Art", der auf den Vorträgen einer Sektion der Konferenz der Renaissance Society of America von 2007 beruht. Bereits der etwas enigmatische Titel deutet an, dass es den Herausgebern um mehr als die Beschäftigung mit der rhetorischen Kategorie der 'Dunkelheit' und der durch sie generierten Rezeptionsmechanismen geht. Ihr Rahmensystem ist ein philosophisches und das Ziel kein geringeres als die Neu-Konturierung des "subject"-Begriffs (also: Sujet, Inhalt). Dies unternehmen sie im Hinblick auf, aber nicht allein für solche gemeinhin als ambig bzw. mehrdeutig apostrophierten Werke, deren Sujets entweder nicht eindeutig zu identifizieren sind oder mehrere Möglichkeiten der Sinnzuschreibung nahelegen.

Obgleich Nagel und Pericolo den von Paul de Man und Jacques Derrida in den literarischen und philosophischen Diskurs eingeführten Begriff der "Aporia" übernehmen, ist ihr Zugriff doch kein dekonstruktivistischer oder poststrukturalistischer; ja im Prinzip gehen sie selbst hinter das umgangssprachliche Begriffsverständnis von "Aporia" im Sinne der Unmöglichkeit, eine Frage zu lösen oder eine Entscheidung zu treffen, zurück und beziehen sich auf die originäre Semantik des Adjektivs "a-poros" ("ohne Weg", unwegsam). So postulieren sie das "aporetische Kunstwerk" - wohl wissend, dass sie damit eine gewisse semantische Formung des Begriffs unternehmen.

Giorgiones enigmatische Drei Philosophen im Wiener Kunsthistorischen Museum, das Generationen von Ikonografen mit Identifizierungsversuchen von Bildpersonal und Thema beschäftigt hat, und Giovanni Antonio Boltraffios Zeichnung eines "Bacchus-Johannes", der seine Modellabhängigkeit nicht leugnen will, sind Alexander Nagels Beispiele für die verschiedenen Spielarten solcher "aporetischen" Werke. In ihnen ist ein Weg der Sinn- oder Identitätszuschreibung "blockiert". [1] Weil dieser Weg aber den Rezipienten als Möglichkeit aufscheint, bedingt er im Akt der Wahrnehmung eine reflexive Komponente: "it forces a reconsideration of the approach itself"[2] und mobilisiert damit bei den Betrachtern das Denken über die Modalitäten künstlerischen Arbeitens. Gerade im Hinblick auf solche ohne Frage zutreffenden Überlegungen kann der heuristische Gewinn des Aporie-Begriffs bezweifelt werden, weil die in ihm steckende Negation samt abgeleiteter Metaphorik der "Blockade" der weitaus subtileren Interpretation doch etwas entgegensteht. Wie auch immer man sich die Rezeptionshaltung eines Bacchus-Johannes mit deutlicher Modellabhängigkeit um 1500 auch vorzustellen hat - sein Reiz besteht im Hybrid-Charakter, der die Lektüremöglichkeiten gerade anbietet und nicht blockiert. Aber diese kritische Anmerkung bezüglich der Terminologie mindert nicht den Wert der mit dem Begriff verknüpften Überlegungen von Nagel und Pericolo.

In Gänze erschließen sie sich erst im Zusammenhang mit den Ausführungen über den Begriff des "subject" (Sujet; it.: soggetto), die Nagel und Pericolo ausgehend von Aristoteles mit Stationen bei Dante und Gilio anstellen. Ihre Attraktivität liegt in der Herausarbeitung der Dimension des Potentiellen: das "subject" erschöpft sich nach Nagel und Pericolo nicht im definierten, fertigen Produkt, ihm ist vielmehr das potentielle Moment eines 'anderen Weges' eingeschrieben. Dies wiederum - und hier argumentieren Nagel und Pericolo wieder als Kunsthistoriker - ist das Resultat des künstlerischen Entwurfsvorgangs und der ihm eigenen Prozessualität von Erfinden, Verwerfen und Revidieren. Es ist ja eine medienspezifische Besonderheit der (Bild-)künste, speziell der Zeichnung - im Gegensatz zum (gedruckten) Text oder zu der in Aufführungen verklingenden Musik -, dass dieser Akt des Durcharbeitens von Bild-Möglichkeiten in das Kunstwerk nicht nur inkorporiert ist, sondern gelegentlich auch sichtbar oder erahnbar sein kann - man denke nur an den späten Tizian oder Rembrandt. Und eben diese alternativen, angelegten Wege können wiederum semantische Vielschichtigkeit generieren.

Die empirischen Beiträge des Bandes nutzen dieses anregende Angebot einer Neuformatierung des Inhalts-Begriffs - wie nicht anders zu erwarten - verschieden intensiv, ihre Ergebnisse sind aber durchweg gewinnbringend; der umspannte zeitliche Rahmen reicht vom frühen 15. bis ins 17. Jahrhundert zu Velázquez (Aneta Georgievska-Shine über die Hilanderas) und Rembrandt (Lorenzo Pericolo über die Danae in St. Petersburg); dabei werden die Gattungen Skulptur, Grafik/Zeichnung, Malerei und Architektur exemplarisch behandelt.

So liest Jeanette Kohl die Donatello zugeschriebene Marmorbüste eines jungen Mannes im Bargello, die formal auf die Gattung der Reliquienbüste rekurriert und mit platonischer Bildlichkeit verbindet, als Bild gewordene Sublimierung der differenzierten Normen der homo- und heterosexuellen Gesellschaft im Florenz des 15. Jahrhunderts. Patricia Emison arbeitet an Bernardo Previdaris nach einer Zeichnung von Donato Bramante geschaffenen Radierung einer Architekturfantasie heraus, wie ihr Schöpfer das Generieren von Bedeutung quasi verhandelt, und Cammy Brothers parallelisiert Michelangelos Strategem des Unterlaufens konventioneller Zuordnungen und Aufgaben von Architektur, Ornament und Figurenschmuck in der Medici-Kapelle in ihrer Wirkweise mit Technik und Ziel des Sokratischen Dialogs im produktiven Einsatz der Erkenntnis von aporia, die auf sprachloses Staunen zielt, paradoxerweise aber dadurch einen Dialog mit den Betrachtern initiiert. Nicht zufällig behandelt Cosimo Bartoli in seinen Ragionamenti Accademici (1567) auch Michelangelos pointierte Normverstöße in dialogischer Form.

Vom inhaltlichen Rahmen des Bandes wünscht man sich gerade ob des großen intellektuellen Potentials die weitere Ausarbeitung durch die beiden Autoren und ihre Leser. Hierbei bieten sich eine Reihe von Themenfeldern als Anknüpfungspunkte an: die Metaphorik des Schleiers in Produktions- und Rezeptionszusammenhängen [3], die Scheidung eines klassischen von einem unklassischen Bildbegriff [4], das Konzept einer "Offenheit" des Kunstwerks nach Eco, die Bestimmung der Voraussetzungen ambiger Bildstrukturen in der Pluralität und Ausdifferenzierung der Gattungen, Aufgaben und Ansprüchen an die Kunst in der Frühen Neuzeit [5], und schließlich das Konzept des Performativen mit seiner Aufmerksamkeit für die Dynamiken des Herstellens und 'Machens' [6], das sich hervorragend an die Neukonturierung des Sujet-Begriffs durch Nagel und Pericolo anschließen lässt.


Anmerkungen:

[1] Alexander Nagel / Lorenzo Pericolo: Unresolved Images: An Introduction to Aporia as an Analytical Category in the Interpretation of Early Modern Art, in: Subject as Aporia in Early Modern Art, hg. von dens., Farnham 2010, 1-15, hier 9.

[2] Ebd.

[3] Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001; Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, hgg. von Johannes Endres / Barbara Wittmann / Gerhard Wolf, München 2005.

[4] Werner Busch: Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009.

[5] Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, 2. Aufl. Berlin 2011.

[6] Vgl. etwa Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004.

Valeska von Rosen