Rezension über:

Torsten Hiltmann: Spätmittelalterliche Heroldskompendien. Referenzen adeliger Wissenskultur in Zeiten gesellschaftlichen Wandels (= Pariser Historische Studien; Bd. 92), München: Oldenbourg 2011, 513 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-59142-2, EUR 64,80
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Rezension von:
Sven Rabeler
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Sven Rabeler: Rezension von: Torsten Hiltmann: Spätmittelalterliche Heroldskompendien. Referenzen adeliger Wissenskultur in Zeiten gesellschaftlichen Wandels, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/05/20549.html


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Torsten Hiltmann: Spätmittelalterliche Heroldskompendien

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Die aus dem Europäischen Graduiertenkolleg 625 "Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole" (Dresden / Paris) hervorgegangene, von Gert Melville und Michel Pastoureau betreute und 2005 eingereichte Dissertation Torsten Hiltmanns nimmt sich einer für die spätmittelalterliche Adelskultur zentralen Quellengruppe an, der seitens der Forschung bislang viel zu wenig Beachtung zuteilwurde. Es handelt sich um eine Reihe von Textkompilationen, in denen Ursprünge, Rechte, Aufgaben und Ausbildung von Herolden eine wichtige Rolle spielen und die während des 15. Jahrhunderts weite Verbreitung fanden.

Den Gegenstand seiner Untersuchung umreißt Hiltmann vorderhand nicht mit formalen und funktionalen Kriterien wie Gattung, Autoren, Adressaten, Intention und Rezeption - all dies wird im Verlauf der Arbeit vielfältig diskutiert, doch richtet sich der Blick auf eine unter diesen Aspekten vergleichsweise heterogene Quellengruppe. Diese wird durch inhaltliche Schwerpunkte und in Abgrenzung zu verwandten Quellen definiert: Heroldskompendien seien "Kompilationen von Texten, die sowohl ausführlich über das Heroldswesen informieren als auch über adelige Zeremonien, die adelige Welt und deren Zeichen. Sie vermittelten spezielle Fertigkeiten und allgemeine Wissensinhalte, die zur Ausführung des Amtes der Herolde dienlich waren bzw. deren beruflichen Interessen entsprachen" (82). Über die grundlegende Deskription dieser Quellengruppe hinaus geht es Hiltmann um ihre Überlieferung, um ihre historische Kontextualisierung und um die Aufzeigung ihres Quellenwertes.

Ausgehend von der Zusammensetzung der Textsammlungen, wird so gleichsam auf induktivem Wege die betrachtete Quellengruppe eingegrenzt, wobei die damit verbundenen Unschärfen - zumal mit Blick auf spezifisch adlige Überlieferungen - nicht geleugnet, sondern analytisch fruchtbar gemacht werden, soll doch gerade die Stellung zwischen den professionellen Interessen der Herolde und den sozialen Interessen des Adels aufgezeigt werden. Zeitlich beschränkt sich Hiltmann auf spätmittelalterliche Textzeugen bis zum beginnenden 16. Jahrhundert, geographisch auf den französisch-burgundischen Raum. Das auf diese Weise zusammengestellte Korpus umfasst 24 Handschriften und eine Druckausgabe, die Hiltmann entsprechend den jeweils enthaltenen Texten und den gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen neun unterschiedlichen Kompendien zuweist.

Methodisch steht die vergleichende Analyse der Textzeugen im Vordergrund, insbesondere hinsichtlich der textlichen Varianz, aber auch der materiellen Form. Vergleichbare Zugänge hat etwa die historiographiegeschichtliche Forschung seit den 1990er Jahren entfaltet. Rezeptionsgeschichtlich relevante Benutzungsspuren und Anhaltspunkte für konkrete Gebrauchssituationen bieten die untersuchten Handschriften zwar selten, doch gelingt es Hiltmann, Intention, Funktion und Gebrauch aus den Texten selbst, ihren Inhalten, Verknüpfungen, Modifikationen und Präsentationen abzuleiten, soweit möglich unter Einbeziehung personengeschichtlicher Momente (Autoren, Auftraggeber, Besitzer). Leitende Begriffe der Analyse sind "Handlungswissen" ("jenes Wissen, welches die Herolde in ihren Aufgaben unmittelbar anleitete oder ihnen bei deren Erfüllung direkt behilflich war") und "Referenzwissen" ("jenes Sekundärwissen [...], das ihnen darüber hinaus auch ein weiter gefaßtes Verständnis der adeligen Kultur wie ihres eigenen Amtes vermittelte", 51).

Der Gang der Untersuchung ist in fünf klare Schritte gegliedert. Auf die Einführung (11-55), die neben Angaben zu Forschungsstand, Ziel und Methode einen instruktiven Abriss zum spätmittelalterlichen Heroldswesen in der behandelten Region umfasst, folgt die "Definition der Quellengruppe" (57-82), die ihren exemplarischen Ausgang von dem in der Literatur bislang noch am stärksten beachteten "Kompendium des Herolds Sicile" nimmt. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit der "Struktur der Heroldskompendien und ihre[r] Überlieferung" (83-231). Gegliedert nach den einzelnen Kompendien und deren Textzeugen werden die variable Zusammensetzung, die Abhängigkeitsverhältnisse sowie inhaltliche und überlieferungstechnische Besonderheiten beschrieben, ebenso die Zuweisung zu unterschiedlichen sozialen Milieus (Herolde, Adlige, Aufsteiger). Es schließt sich die Analyse einzelner in den Kompendien enthaltener Texte an ("Die Inhalte der Heroldskompendien", 233-408). Behandelt werden jeweils an mehreren besonders häufig überlieferten Beispielen Traktate zum Heroldswesen im engeren Sinn (mythische Ursprünge, Rechte), zu "adeligen Zeremonien" (Obsequien, gerichtlicher Zweikampf) und zur "adeligen Gesellschaft und ihren Zeichen" (Wappen, Kriegswesen, fürstlich-adlige Hierarchien). Dabei geht es zum einen um die Herkunft der Texte und ihre Beziehung zum Heroldswesen, zum anderen um inhaltliche Anbindungen an den Adel und dessen Interessen. Im abschließenden Abschnitt (409-438) werden die Ergebnisse zusammengefasst und eingeordnet. Seine Abrundung erfährt der Band in einem Anhang (439-465), der die in den Kompendien enthaltenen Texte systematisch katalogisiert, sowie in Verzeichnissen und Registern.

Überzeugend legt Hiltmann dar, dass die Heroldskompendien vergleichsweise wenig konkretes Handlungswissen, sondern vornehmlich Referenzwissen zu bieten hatten. So konnten die darin enthaltenen Texte Zeremonien beschreiben, die zum Entstehungszeitpunkt der Handschriften kaum mehr in Gebrauch waren, und nur selten finden sich Spuren der praktischen, zeitgemäßen Adaption von Inhalten. Weit wichtiger war die Darstellung historisch verankerter Soll-Zustände und Gruppenidentitäten. Diese Aktualität im Sinne des legitimierenden und kontextualisierenden Referenzwissens, in dem sich die Profession der Herolde und das Verständnis der adligen Kultur durchdrangen, machte diese Textkompilationen nicht allein für Herolde nützlich, sondern gerade auch für adlige Rezipienten attraktiv.

Verankert sieht Hiltmann die Heroldskompendien in den Wandlungs- und Anpassungsprozessen, die der Adel seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts durchlaufen habe und die vor allem in der Eingliederung in fürstliche Herrschaftsstrukturen ("Mediatisierung") sowie in der Konkurrenz nichtadliger Aufsteiger zu sehen seien (ob der Begriff "Krise" dies angemessen beschreibt, sei hier nicht diskutiert). Es sei als Reaktion darauf zu verstehen, wenn in den Heroldskompendien fürstlicher Dienst, militärische Profession und soziale Abgrenzung als zentrale Elemente in Erscheinung treten. Die Herolde und die mit ihnen verbundenen Textsammlungen hätten diese Anpassungsprozesse gefördert und legitimiert. Nicht rückwärtsgewandte Idealisierung, sondern gegenwartsfundierende Vergangenheitsdeutung - mit diesem Interpretament sind Hiltmanns Ergebnisse durchaus in den Rahmen neuerer Forschungen zu Adelsverständnis und adliger Schriftlichkeit des späten Mittelalters einzuordnen.

Die Studie Torsten Hiltmanns zeichnet sich durch tiefe Kenntnis der handschriftlichen Quellen, durch analytische Akribie und abwägende Argumentation, durch den Sinn für das einzelne Detail wie die übergreifende Interpretation aus. Den Wert der von ihm systematisch erschlossenen Quellengruppe stellt er bravourös unter Beweis und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte des spätmittelalterlichen Adels.

Sven Rabeler