ʾAḥmad ʿAbd al-Ḥalīm ʿAṭiyya: Kānṭ wa-ʾunṭūlūǧiyā l-ʿaṣr. [Kant und die Ontologie des Zeitalters], Beirut: Dār al-Fārābī 2010, 365 S., ISBN 978-9953-71-478-3
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Das Thema "Immanuel Kant (1724-1804) und seine Philosophie" wird auch heute noch in arabischen Intellektuellenkreisen diskutiert. Dies zeigen nicht nur arabischen Fachzeitschriften, welche mehrere Ausgaben der kantischen Philosophie gewidmet haben, sondern auch die gegenwärtigen Diskussionen um politische Freiheit und Demokratie [1], die nach dem Arabischen Frühling intensiver wurden. [2] Der in arabischer Sprache erschienene und von ʾAhmad ʿAbd al-Ḥalīm ʿAṭiyya herausgegebene Sammelband beschäftigt sich mit der Philosophie Immanuel Kants und ihrer Rezeption in der arabischen Welt. Der Band beinhaltet neben einem kurzen Vorwort acht Aufsätze aus der Feder von Autoren aus Ägypten und Tunesien. Der erste Artikel des ägyptischen Herausgebers ʿAtiyya besteht aus einer historischen Einführung in die Kant-Rezeption in der arabischen Welt und sechs Kapiteln, welche Aspekte der Philosophie Kants sowie Übersetzungen seiner Werke behandeln. In der Einleitung räumt ʿAṭiyya ein, sein Aufsatz sei keine umfassende Studie, die die Kant-Rezeption im gesamten arabischsprachigen Raum untersuche. Vielmehr gehe es um einige von der kantischen Philosophie ausgehende Ansätze und Anregungen für den arabischen Diskurs z.B. über die Frage nach dem arabisch-islamischen Kulturerbe sowie über die Rolle von Vernunft, Freiheit, Kritik und Aufklärung. Das erste Kapitel befasst sich mit den ersten Begegnungen mit der kantischen Philosophie. Hier nennt der Autor drei Wege, auf denen die kantische Philosophie in der arabischen Welt rezipiert wurde. ʿAṭiyya datiert den Beginn dieser Rezeption auf den Anfang des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit seien nämlich zahlreiche Veröffentlichungen über Kant und seine Philosophie in arabischen Zeitschriften erschienen. Als erstes nennt ʿAṭiyya Vorlesungen und Seminare über kantische Philosophie an der alten ʾAhliyya-Universität in Kairo. Er erwähnt seinen spanischen Philosophielehrer El Conde de Galarza, der im Studienjahr 1919/1920 Vorlesungen zu Kants Ethik hielt. Zum zweiten nennt ʿAṭiyya Übersetzungen einiger Werke Kants. Schließlich weist er auf Aufsätze, Studien, Magisterarbeiten sowie Dissertationen und andere Arbeiten über Kant und seine Philosophie hin. Zu letztgenannten Punkt listet ʿAṭiyya einige Arbeiten und ihre Verfasser auf, die aus unterschiedlichen arabischen Ländern stammen, ferner Artikeln, die Immanuel Kant arabischen Lesern zum ersten Mal vorgestellt haben, wie z.B. den Aufsatz des populären arabischen Denkers ʿAbbās Maḥmūd al-ʿAqqād (1889-1964), der in der ägyptischen Zeitung al-Balāġ im Jahre 1924 veröffentlicht wurde. Im zweiten Kapitel gibt ʿAṭiyya eine Übersicht über die unterschiedlichen Übersetzungen von Werken Kants in die arabische Sprache. Darüber hinaus erläutert er, dass es für mehrere Werke mehrere Übersetzungen gibt, wie z.B. für die Kritik der reinen Vernunft. Der Verfasser erwähnt, wenn auch nur beiläufig ist, einige Titel von Studien und Artikeln zu den Übersetzungen und der Problematik, zu den deutschen philosophischen Fachbegriffen Kants äquivalente arabische Begriffe zu finden. Allerdings kommentiert und bewertet er keine der Arbeiten bzw. Übersetzungen. Er schreibt vielmehr eine Art Bibliographie mit kurzen Inhaltsangaben zu ihnen. In den beiden ersten Kapiteln sind viele deutsche Wörter orthographisch falsch geschrieben. Beispiele hierfür sind auf Seite 17 "Vermogan" für "Vermögen", "Grundstaze" für "Grundsätze" und auf Seite 26 wurde der deutsche Titel der Schrift Kants "Zum ewigen Frieden" zu "Zum Euvigen Friden".
Die letzten vier Kapitel bestehen ausschließlich aus einer ausführlichen Bibliographie arabischer Werke und Aufsätze, die Kants Philosophie erläutern. Die Studien, welche in Form von Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen veröffentlicht sind, behandeln unterschiedliche Auslegungen von Kants Erläuterungen zu einigen Schlüsselbegriffen seiner Philosophie wie "Metaphysik", "Aufklärung", "Ästhetik" oder "Vernunft". Zudem behauptet ʿAṭiyya, dass bestimmte arabische philosophische Denkströmungen von Kant inspiriert seien. Jedoch erwähnt er hierzu nur eine Dissertation mit dem Titel Self Determination von dem ägyptischen Philosophie-Lehrer Zakī Naǧīb Maḥmūd (1905-1993). Auch wenn der Autor die Kapitel seines Aufsatzes nicht thematisch sinnvoll gegliedert hat und einige Fragen, die er in seiner Einleitung gestellt hatte, nicht beantwortet, bleibt sein Aufsatz eine wichtige Quelle für jede Forschung zur Kant-Rezeption in der arabischen Welt.
Der zweite Beitrag, dessen Autor der ägyptische Übersetzer und Philosophielehrer ʿAbd l-Ġaffār Makkāwī ist, besteht nur aus seiner eigenen kommentierten Übersetzung der Vorreden zu den ersten beiden Auflagen von Kants Kritik der reinen Vernunft sowie der Einleitung Kants hierzu, die Makkāwī auch ausführlich bearbeitet hat. Der dritte Artikel ist identisch mit dem zweiten Kapitel des von Zakī Naǧīb Maḥmūd verfassten Werkes Mawqif min al-mitāfīzīqyā (arab. Standpunkt zur Metaphysik), das in dritter Auflage im Jahr 1987 erschienen ist. Maḥmūd beschreibt in 37 Seiten Kants kritische Philosophie und erklärt ausführlich, was Kant zum Beispiel unter "Kritik" bzw. "Kritik der Vernunft" versteht und was den Unterschied zwischen kritischer Philosophie und Dogmatismus einerseits und zwischen einem Wissenschaftler und einem Philosophen andererseits ausmacht. Nach Auffassung des Verfassers ist kritische Philosophie immer analytische Philosophie. [3] In seinem Aufsatz zitiert er im Übrigen ausschließlich englische Wissenschaftler. Der Text wendet sich mit unkomplizierten Formulierungen und einfachen Beispielen an ein breiteres Publikum und nicht nur an eine bestimmte Fachleserschaft.
Der tunesische Philosophielehrer Fatḥī al-Maskīnī, der viele Essays über Hegel (1770-1831) und Martin Heidegger (1889-1976) veröffentlicht hat, trägt den vierten und anspruchsvollen Aufsatz mit dem Titel Kant nach Heidegger: Wer ist der Mensch? Oder was ist der Mensch? bei. Al-Maskīnī untersucht die Definition des "Menschen" und die Umformulierung der anthropologischen Frage "Was ist der Mensch?" zu "Wer ist der Mensch?" im Rahmen des philosophischen Diskurses der Moderne. Hierzu ist festzuhalten, dass der Autor die Formulierung der Frage durch Heidegger aufgegriffen hat, um Vergleiche mit der Formulierung der zweiten Frage durch Kant ziehen zu können.
Der fünfte Aufsatz ist eine arabische Übersetzung des Artikels Kant und Dilthey und die Idee der Kritik des historischen Urteils von Rudolf Makkreel. Der ägyptische Übersetzer ʾAḥmad ʿAbd al-Maǧīd erwähnt nicht, wo dieser Artikel veröffentlicht wurde. In diesem Beitrag werden einige Begriffe Kants und Diltheys wie u.a. "Judgment and reflective Determination" oder "Explanation and Understanding" erläutert und miteinander verglichen, um so eine philosophische Kritik des historischen Urteils entwickeln zu können.
Der ägyptische Philosophielehrer Ḫālid Quṭb beschäftigt sich im sechsten Aufsatz mit der Kritik der "maskulinistischen Vernunft" in der kantischen Philosophie und stellt das Frauenbild der westlichen Philosophie seit der Antike, d.h. seit Platon (428/427-348/347 v.Chr.) bis Descartes (1556-1650) dar. Ḫālid Quṭb stützt sich hier u.a. auf Studien der feministischen Bewegungen [4], die der Diskriminierung von Frauen in der Philosophiegeschichte ein Ende setzen wollen und bekannte Philosophen für ihre Haltung kritisieren. Zu diesen Philosophen zählt Quṭb auch Kant, der die Meinung vertrete, dass Frauen - aufgrund ihrer hohen Emotionalität - nicht wie Männer fähig seien, rational zu denken.
Die politische Philosophie Kants ist der Titel des siebten Aufsatzes, ein Text eines nicht genannten Autors unbekannter Herkunft in der Übersetzung durch die ägyptische Philosophielehrerin Hanāʾ ʿŪda al-Ḫuḍayrī. In diesem Text werden die politischen Theorien Kants und ihre Entwicklung beschrieben, sowie politisch-philosophische Begriffe wie "Freiheit", "Demokratie", "Republik und Monarchie" und "Gewaltenteilung" diskutiert.
Der letzte Aufsatz des Bandes, ein Beitrag des tunesischen Philosophielehrers Muḥsin az-Zāriʿī handelt von Kants Transzendental-Philosophie in der Phänomenologie bei Husserl. Eine der Fragen, die der Autor in diesem Aufsatz untersucht, lautet: Wie erkennt man die transzendentale Bedeutung der Phänomenologie mittels der Philosophie Kants bzw. der sogenannten Kants kopernikanischen Wende?
Der hier besprochene Sammelband bietet dem arabischen Leser alles in allem einen Überblick über die Wege der Rezeption kantischer Philosophie in der arabischen Welt und führt ihn kurz aber in einigen Beiträgen auch tief in die Gedankenwelt Kants ein.
Anmerkungen:
[1] ʿAṭiyya 2010, 9f und siehe 7. Kapitel, 269-338.
[2] Siehe Artikel von Būyā Muḥammad al-ʾAġẓaf in: http://www.ahewar.org/debat/show.art.asp?aid=267812, Zugriff am 11.02.2012.
[3] ʿAṭiyya 2010, 177f.
[4] Er nennt hier nur eine ins Arabische übersetzte Studie Women in Western Political Thought von Susan Moller Okin (1946-2004).
Fatima Abdelhadi