Greg M. Thomas: Impressionist Children. Childhood, Family, and Modern Identity in French Art, New Haven / London: Yale University Press 2011, XXIII + 214 S., ISBN 978-0-300-11285-6, GBP 45,00
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Zum Selbstverständnis der Kunst des französischen Impressionismus zählt zweifelsohne die ästhetische Aufmerksamkeit gegenüber dem radikal Gegenwärtigen. Demgegenüber hat jedoch die kunsthistorische Forschung der vergangenen Jahre mit Nachdruck hervorgehoben, dass die impressionistische Generation von Malerinnen und Malern in ihren Werken durchaus auch die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des von ihnen mit lockerem Pinselduktus gemalten modernen Lebens im Blick hatte. [1] In einer Untersuchung mit dem Titel Impressionist Children. Childhood, Family, and Modern Identity in French Art, die in einem aufwändig produzierten und mit zahlreichen, qualitativ hochwertigen Farbabbildungen versehenen Band bei Yale University Press im Jahr 2011 erschienen ist, verleiht der Kunsthistoriker Greg M. Thomas dem Gemeinplatz, dass Kinder die Zukunft sind, eine überraschende Neuperspektivierung: Seine Analysen von Gemälden von Édouard Manet, Mary Cassatt, Edgar Degas, Berthe Morisot, Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und weiteren Künstlern verorten die auf den ersten Blick liebreizend und manchmal auch harmlos wirkenden Darstellungen von Kindern in der impressionistischen Kunst im Horizont eines durchaus biopolitisch grundierten (wenngleich auch nicht mit dieser Terminologie versehenen) Projekts. [2] Schon bei flüchtiger Betrachtung der Gemälde fällt auf, dass die Kinder der Impressionisten im Sinne einer bürgerlichen Idealprojektion oftmals als bereits autonome Individuen dargestellt worden sind. Kaum je brechen sie in infantiles Lachen aus oder zeigen sich in ausgelassenen und übermütigen Gesten; die Künstlerinnen und Künstler präsentieren sie dagegen meist wohlerzogen bei der Lektüre von Büchern, bei Spaziergängen im Park oder als Porträtierte.
Thomas geht es um den Nachweis, dass die Gemälde eine geradezu bildpädagogische Funktion in den generationenübergreifenden Stabilisierungsversuchen der noch jungen Dritten Republik und ihrer republikanisch-demokratischen Ideologie einnahmen, indem sie die Erziehung von verantwortungsvollen Staatsbürgern im trauten Umfeld der Kernfamilie im selben Maße repräsentierten, wie sie diesen Prozessen der Subjektwerdung überhaupt erst bildhafte Formen verliehen (XVI). Dabei verfolgt der Autor die durchaus divergierenden visuellen Strategien der Inszenierung von Kindern und von Kindheit aus der subjektiven Perspektive der erwachsenen Künstler-Beobachter. Die methodologische Selbstverortung des Autors zeigt sich insbesondere in den zentralen Schlüsselkonzepten, die den Prozess der Formierung von kindlicher Subjektivität und Identität als psychologisch wirksame Effekte einer "commodification" (XVI) und "acculturation" (XV) im Spannungsfeld von "the bourgois nuclear family and the spectacle of Paris" (XXIII) beschreiben. Seine Analysen können dabei einerseits an die durchaus etablierte sozialhistorische und kapitalismuskritische Erforschung der Kunst des Impressionismus anschließen, wie sie prominent von Autoren wie T.J. Clark und - mit einem Akzent auf geschlechtertheoretischen Fragestellungen - Linda Nochlin entfaltet worden sind. Andererseits profitieren sie von den Erkenntnissen einer Theorie der Kindheit als kulturell und historisch variabler Konstruktion, wie sie von Philippe Ariès bis Chris Jenks entwickelt worden ist.
Ein erstes Kapitel zu den Bildtraditionen der Darstellung von Kindheit führt systematisch und überzeugend vor, inwiefern der Impressionismus im selben Maße an tradierte visuelle Formeln anschließt (etwa an Darstellungen von Maria mit dem Kind oder an sentimentalische Familienszenen à la Greuze), wie er zugleich einen historischen Bruch mit diesen inszeniert. Indem die Impressionisten ihre eigenen Kinder, Nichten und Neffen als Bildmotive entdeckten, aktualisierten sie auch deren allegorischen Gehalt: Die Kinderdarstellungen standen nun nicht mehr für abstrakte Ideen oder Konzepte ein, sondern sie gaben sich in ihrer lebensweltlichen Existenzform als Allegorien des modernen Lebensstils zu erkennen.
Das nachfolgende Kapitel mit dem hinreißenden Titel All dolled up widmet sich einem breiten Untersuchungsmaterial, das nicht nur kanonische Werke wie etwa Mary Cassats Kleines Mädchen im blauen Fauteuil aus dem Jahr 1878 umfasst, sondern zugleich auch auf die populäre und breit zirkulierende Bildproduktion eingeht, die vor allem in Kinderbüchern, in neu gegründeten Kinderzeitschriften wie La Jeunesse oder in Spielzeugpuppen zum Vorschein kommt. Dabei weist der Autor an Renoirs Darstellungen von artigen Mädchen im häuslichen Umfeld oder im Park nach, wie sehr das kindliche Verhalten als Form einer gelebten Mimesis des Erwachsenendaseins verstanden worden ist. Schon die zeitgenössische Kunstkritik bemerkte im Blick auf Renoirs Gemälde Promenade von 1878, dass der Maler die Physiognomie und den Habitus der Kinder mit denjenigen ihrer eigenen Mutter auf eine fast übertriebene Weise reimte (48f.). Nur im selbstvergessenen Spiel der Kinder am Strand, das Mary Cassatt mit liebevollem Pinselgestus im Jahr 1885 festhielt, scheint sich ein zeitlich begrenzter Freiraum des kindlichen Daseins aufzutun (60f.). Und doch verrät auch das Spielzeug selbst, dass es nicht unschuldig ist: Wenn Renoir oder Monet ihren Kindern Puppen an die Hand geben, die selbst wiederum auf eine beinahe unheimliche Weise den Erwachsenen wie auch den Kindern gleichen, so bringen die Künstler auf subtile Weise die Verfahren der mimetischen Wiederholung als Mechanismen der Subjektwerdung in ihre Werke ein (42f.).
Im weiteren Verlauf der Untersuchung verfolgt Thomas mit einem stärkeren Akzent auf die symbolisch aufgeladenen Raumverhältnisse die unterschiedlichen Codierungen von kindlichen Lebenswelten, die sowohl in den intimen Räumen der privaten Wohnstätten wie auch in den halb öffentlichen und halb privaten Parklandschaften von Paris ihre Orte finden.
Ein abschließendes Kapitel bindet die Darstellung von Kindern in die visuelle Inszenierung von Familienkonstellationen ein, wobei Thomas die impressionistischen Bildfindungen als Visualisierungen einer republikanischen Idealvorstellung von Familien konturiert: Diese bildet meist einen losen Verbund von relativ freien und autonomen Individuen, deren Zusammenhalt vor allem auf wechselseitiger Liebe und erzieherischer Zuwendung basiert und bei der die Standes- und Erbverhältnisse eine oftmals weitgehend kaschierte Fundierung bilden.
Mit seiner Studie liefert Thomas einen wichtigen Beitrag zu einem zentralen Motiv der impressionistischen Malerei, dessen Gesamtkonzept und Einzelanalysen gleichermaßen durch den methodisch fest fundierten Zugriff auf die Bildfindungen überzeugen. Es wäre lediglich zu fragen, ob durch die Festlegung des Untersuchungsgegenstandes auf die Darstellung von Kindern im Impressionismus nicht vielleicht allzu schnell auch die methodologische Perspektivierung auf Prozesse und Verfahren der "acculturation" als einer weitgehend passiven Zurichtung des Subjekts durch die politische Ideologie und den gesellschaftlichen Diskurs einhergeht. Neuere Konzepte der Subjektwerdung, wie sie beispielsweise in dem von Michel Foucault entfalteten und von Judith Butler weiter verfeinerten Konzept des assujettissement zum Tragen kommen, versprechen, die Einseitigkeit der Formung von Subjekten durch einen poietischen Anteil zu ergänzen, indem sie die anfängliche Unterwerfung unter die Regelwerke der herrschenden Diskurse zur unabdingbaren Voraussetzung erklären, um diese in einem zweiten Schritt einer kritischen Prüfung und Neuinterpretation zu unterziehen. [3]
Anmerkungen:
[1] Stephen Eisenman u.a. (eds.): From Corot to Monet: The Ecology of Impressionism, Rom 2010 / Mailand 2011; Greg M. Thomas: Art and Ecology in nineteenth-century France: the landscapes of Théodore Rousseau, Princeton 2000.
[2] Vgl. mit Blick auf die aktuelle, kulturwissenschaftliche Forschung zu Kindheit und Familie: Albrecht Koschorke / Nacim Ghanbari u.a.: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, München 2010.
[3] Guillaume Le Blanc: La Pensée Foucault, Paris 2006, 67ff.
Dominik Brabant