Herbert Hömig: Karl-Theodor von Dalberg. Staatsmann und Kirchenfürst im Schatten Napoleons, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 689 S., ISBN 978-3-506-77240-4, EUR 78,00
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Über Carl Theodor von Dalberg (1744-1817), den letzten Kurfürsten von Mainz und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches, sind in neuerer Zeit Teilmonographien (Antje Freyh, Klaus Rob), Sammelbände und zahlreiche Aufsätze erschienen, die das lange Zeit vorherrschende negative Bild, das die "nationaldeutsche Kritik" (392) über den "Reichsverräter" Dalberg gezeichnet hatte, in mancherlei Hinsicht korrigiert und um bislang unbekannte Facetten ergänzt haben. Von daher ist es zu begrüßen, dass Herbert Hömig die Aufgabe übernommen hat, diese Forschungen zusammenzuführen und eine neue Gesamtbiographie vorzulegen. In 17 Kapiteln werden darin die wichtigsten Lebensstationen und Wirkungsfelder Dalbergs geschildert: seine Herkunft und Verankerung in der rheinischen Adelswelt; der Eintritt in kurmainzische Dienste nach dem Studium der Rechte und seine langjährige Tätigkeit als mainzischer Statthalter in Erfurt (1771-1802), wo er die glücklichste Zeit seines Lebens verbrachte, sich als aufgeklärter Reformer und guter Administrator bewährte und in engen Kontakt zum Weimarer Musenhof und den führenden Vertretern der deutschen Klassik trat; die Wahl zum Koadjutor der Bischöfe von Mainz, Worms und Konstanz 1787/88, wodurch Dalberg mit der großen Politik in Berührung kam und erste Pläne für eine Reichs- und Kirchenreform entwarf; sein Wirken als Fürstbischof von Konstanz (seit 1800) und der Regierungsantritt in Mainz (1802), der bereits unter den Vorzeichen der Auflösung des Alten Reichs und der Säkularisation erfolgte, die Dalberg 1803 als einziger geistlicher Reichsfürst überstand, indem er als Entschädigung für den Verlust seiner linksrheinischen Gebiete die Reichsstadt Wetzlar und die Herzogtümer Aschaffenburg und Regensburg erhielt und der Mainzer Erzstuhl nach Regensburg transferiert wurde; seine schicksalhafte Begegnung mit Napoleon, der Dalberg 1806 zunächst zum Fürstprimas des Rheinbundes und 1810 zum Großherzog von Frankfurt erhob; das Ende seiner weltlichen Herrschaft nach dem Sturz Bonapartes 1813, die Flucht in die Schweiz und der Rückzug nach Regensburg, wo er bis zu seinem Tod sein Amt als Erzbischof ausübte.
In diesen Stationen eines langen und wechselhaften Lebens als Staatsmann und Kirchenfürst treten Dalbergs schillernde Persönlichkeit, seine menschliche Güte und Hilfsbereitschaft, sein geistig-politisches Profil als führender Vertreter der katholischen Aufklärung, seine literarischen und wissenschaftlichen Interessen sowie sein Mäzenatentum, aber auch seine zentralen politischen Ideen, die er unter rasch wechselnden Rahmenbedingungen stets weiterverfolgte, hervor. Drei übergreifende Themen kommen dabei immer wieder zur Sprache: Erstens die zahlreichen Anläufe zu einer Reform der Reichsverfassung, die er nach 1806 unter veränderten Vorzeichen durch den Ausbau des Rheinbundes weiterverfolgte, sowie der deutschen Reichskirche unter einem Primas Germaniae durch ein Reichs- bzw. Rheinbundkonkordat, die allesamt am Desinteresse bzw. Widerstand des Heiligen Stuhls, Österreichs und Preußens sowie Napoleons und der größeren Rheinbundstaaten scheiterten. Zweitens die Reformpolitik Dalbergs in seinen jeweiligen Herrschaftsgebieten (Erfurt, Konstanz, Regensburg, Primatialstaat, Großherzogtum Frankfurt), die seine lebenslange Prägung durch den aufgeklärten Absolutismus offenbart. Während Dalberg sich damit vor dem Untergang des Alten Reiches auf der Höhe der Zeit befand, stieß ein solches Konzept unter den veränderten Rahmenbedingungen nach 1806 schnell an seine Grenzen, so dass Dalbergs Reformbilanz im Vergleich zu den führenden Rheinbundstaaten eher bescheiden ausfiel, was vom Autor allerdings nicht thematisiert wird. Großen Raum nimmt drittens das problematische Verhältnis Dalbergs zu Napoleon ein. Bei aller Sympathie spart Hömig hier nicht mit Kritik an seinem Protagonisten, dessen politische Fehler - etwa die Bestellung von Napoleons Onkel Kardinal Fesch zu seinem Koadjutor 1806 - deutlich benannt werden. Zwar sei Dalberg kein willenloser Erfüllungsgehilfe Napoleons gewesen - den Dalberg zum "Werkzeug der Vorsehung" (523) und "Riesengeist" (528) überhöhte -, doch habe er sich immer mehr in Illusionen geflüchtet und sei dadurch zum Gefangenen der Politik Bonapartes geworden.
Anders als es der Untertitel nahelegt, nehmen diejenigen Lebensphasen, die noch nicht im "Schatten Napoleons" standen, den größten Raum ein. Das spiegelt den Stand der Dalberg-Forschung wider, und hier gelingen dem Autor, zumal in den Kapiteln II. (Rheinische Adelswelt) und III. (Statthalter in Erfurt), auch die eindringlichsten und konzisesten Schilderungen. Danach treten darstellerische und inhaltliche Schwächen deutlicher hervor. Über weite Strecken fehlt es an einer stringenten Gedankenführung, da der Autor immer wieder von seinem Thema abschweift, sich in Nebensächlichkeiten verliert und bereits Geschildertes wiederholt oder variiert, wodurch der Text unnötig aufgebläht und das Lesevergnügen getrübt wird. Hingegen werden wichtige Themen und Ereignisse wie der Erfurter Fürstentag 1808 oder die verschiedenen Entwürfe Dalbergs für ein Fundamentalstatut des Rheinbunds nur kurz angerissen und nicht eingehend analysiert. Die neuere Rheinbundforschung wird leider nur unvollständig (es fehlen etwa die wichtigen Monographien von Ralf Roth, Rainer Koch und Hans-Werner Hahn zu Frankfurt und Wetzlar) und recht oberflächlich rezipiert, was sich auch darin zeigt, dass der Autor sich vielfach auf eine bloße Aufzählung von Reformgesetzen und -maßnahmen beschränkt, ohne deren Umsetzung und Aufnahme in der Bevölkerung zu analysieren. Dem unkundigen Leser werden dadurch wichtige Informationen vorenthalten: etwa dass hinter den nach 1810 eingeführten französischen Organisationsformen zumeist die alten Strukturen fortexistierten. Schließlich hätte der Vergleich mit den anderen Rheinbundstaaten, insbesondere den sogenannten napoleonischen "Modellstaaten" Westfalen und Berg, den Blick für die Besonderheiten des Dalberg-Staates schärfen können.
Unbeschadet dieser Monita wird Hömigs Biographie wohl für längere Zeit das maßgebliche Referenzwerk zu Dalberg bleiben, da sie die verstreute Literatur zusammenführt und nach mehr als einhundert Jahren wieder den "ganzen" Dalberg präsentiert. Da der Verfasser nur punktuell eigene Archivforschungen angestellt hat, bietet sie dem mit der Person und der Epoche vertrauen Historiker allerdings nur wenig Neues im Detail. Eine letzte Durchsicht des Textes hätte sprachliche Unebenheiten und sachliche Fehler (etwa 404, 438, 493, 513, 546) beseitigen können. Das Literaturverzeichnis ist leider unvollständig, da viele in den Anmerkungen aufgeführte Titel fehlen, und der Rezensent vermisst ein Sachregister, das die gezielte Suche nach Informationen hätte erleichtern können, die über den ganzen Band verstreut sind.
Eckhardt Treichel