Rezension über:

Christoph Good: Emer de Vattel (1714 - 1767). Naturrechtliche Ansätze einer Menschenrechtsidee und des humanitären Völkerrechts im Zeitalter der Aufklärung (= Europäische Rechts- und Regionalgeschichte; Bd. 12), Baden-Baden: NOMOS 2011, XIII + 210 S., ISBN 978-3-8329-6437-5, EUR 48,00
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Rezension von:
Heinhard Steiger
Linden
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Heinhard Steiger: Rezension von: Christoph Good: Emer de Vattel (1714 - 1767). Naturrechtliche Ansätze einer Menschenrechtsidee und des humanitären Völkerrechts im Zeitalter der Aufklärung, Baden-Baden: NOMOS 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/20869.html


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Christoph Good: Emer de Vattel (1714 - 1767)

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Nach Hugo Grotius ist Emer de Vattel wohl der meistbehandelte Autor zum Natur- und Völkerrecht der Frühen Neuzeit. Er gilt nicht mehr nur als Epigone Christian Wolffs, als der er sich selbst stilisiert hatte, da er sein Hauptwerk Le droit de gens als bloße Adaption des Wolffschen Ius gentium für ein größeres Publikum darstellte. Auch Kants Verdikt als "leidiger Tröster" neben Grotius und Pufendorf wird in der heutigen Einschätzung der Bedeutung des in Neufchâtel geborenen schweizerischen Untertanen Friedrichs II. von Preußen nicht geteilt. Die Studien zu seinem Werk erhellen dieses mehr und mehr in seiner Eigenständigkeit und Bedeutung für die Entwicklung des Völkerrechts in der Praxis des 18. Jahrhunderts.

Das Buch von Christoph Good behandelt einen bisher wenig herausgestellten Aspekt der Vattelschen Natur- und Völkerrechtslehre, die Frage nach den Menschenrechten und in Zusammenhang damit nach einem humanitären Völkerrecht, nach der Terminologie der Zeit Vattels nach dem ius in bello. Die Abhandlung umfasst die Kapitel: Einleitung, Historische und ideengeschichtliche Einordnung, Ansätze der Menschheitsidee und des humanitären Völkerrechts in Vattels Werk, Durchsetzbarkeit der individuellen Rechte und Zusammenfassung. Sie wird beschlossen von einem Quellen- und Literaturverzeichnis. Good bezeichnet als Forschungsziel "Ansätze einer strukturierten Menschenrechtsidee" zum anderen die Ordnung und Beleuchtung der "Vorschläge der humanitären Reglementierung des Krieges" (7f). Dies wird im 3. Kapitel, das im Zentrum der Untersuchung Goods steht, ausgeführt. Good geht aus von einem heutigen Menschenrechtsbegriff auf der Grundlage der Bestimmungen Robert Alexys, Universalität, moralische Geltung, Fundamentalität, Priorität und Abstraktheit (57ff.). Das ist für eine historische Untersuchung gewiss gewagt, weil die Frage ist, ob das "passt". Andererseits beruht die moderne Menschenrechtskonzeption auf Grundlagen, die im 18. Jahrhundert gelegt wurden. Good verweist auf ein "Potpourri" von "Einzelereignissen, Gedankenkonstruktionen und politischen Prozessen", die interagiert hätten (60ff.). Er setzt die Entwicklungslinien dazu bereits in der Antike an, spricht aber von einem "Charakter der Nähe" (60).

Nach einem Durchgang durch diese geschichtlichen Vorgänge bis John Locke wendet Good sich Vattel selbst zu. Er fragt zunächst nach allgemeinen systematischen Grundlegungen und macht zunächst darauf aufmerksam, dass die Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts de facto immer nur den Mann meinten und die Frau ausklammerten, wechselt also von der Ebene der Idee bzw. Erklärung auf die ihrer Umsetzung. Erst dann interpretiert er die Verwendungen der Begriffe citoyens und hommes bei Vattel. Nicht die rechtliche Gleichheit von Mann und Frau sei für Vattel problematisch, sondern die zwischen citoyens und bloßen habitans, niedergelassenen Fremden. Vattel argumentiere dabei weitgehend naturrechtlich, ohne allerdings gewisse Widersprüche aufzuklären. Letztlich lege Vattel die "Droits des citoyens" nicht präzise dar.

Die zweite allgemeine Fragestellung ist dem Verhältnis von Menschenrechtsidee und humanitärem Völkerrecht gewidmet (77ff.) Vattel gilt als der Völkerrechtstheoretiker, der den Übergang von der Lehre des bellum iustum zur Lehre der guerre publique et en forme endgültig vollzogen hat. Gerade dieser Übergang ermöglicht, auch das ius in bello rechtlich besser zu fassen. Good möchte die Ausführungen Vattels in Verhältnis zu dessen allgemeinen Individualrechtsansätzen setzen. Allerdings widmet er sich dazu lediglich allgemeinen Ausführungen zur Entwicklung des (erst ab 1864 nach und nach kodifizierten) ius in bello in "vorkodifikatorischen Zeiten", ohne auf Vattel selbst einzugehen. Er bejaht im Ergebnis vorsichtig diesen Zusammenhang und konstatiert den Schutz des einzelnen im Krieg als lex specialis des Menschenrechtsschutzes. Das steht in heutiger Rechtslage wohl außer Frage, gilt für das 18. und 19. Jahrhundert aber nur auf einer sehr abstrakten Ebene. Hier führt der Ansatz von der heutigen Menschenrechtsidee her zu Unschärfen.

Im zweiten Teil des 3. Kapitels wendet sich Good den einzelnen Rechten zu (82ff.). Da Vattel kein ausgesprochener Theoretiker der Menschenrechte ist, findet sich bei ihm keine katalogartige Aufzählung. Good unterscheidet auf der Grundlage der von Martin Kriele gebildeten Archetypen drei Gruppen von Freiheitsrechten: der individuellen Würde und Freiheit, der wirtschaftlichen Freiheit und der politischen Mitwirkung. Von diesen "geschärften Begriffen" will Good "Assoziationen" zu den Ideenansätzen Vattels herstellen (83). Er geht zunächst auf die nach der Staatsbildung bestehen bleibenden Rechte ein, denen daher "am ehesten menschenrechtsähnliche Qualität" zukomme (84). In dieser Formulierung wird noch einmal deutlich, dass für Good selbst Vattel keine Theorie der Menschenrechte, sondern allenfalls Ideenansätze entwickelt hat. So nennt Good als erstes Notstandsrechte in Bezug auf fremdes Eigentum zur Selbsterhaltung, also nicht Freiheitsrechte. Sie sind als solche nicht deckungsgleich mit Menschenrechten.

Good untersucht dann aber, ob und inwieweit Annäherungen an die drei genannten Kategorien bestehen, wobei er allgemeinen Menschenrechtsschutz und humanitäres Völkerrecht, also ius in bello, nicht mehr getrennt behandelt. Zur Kategorie individuelle Freiheit und Würde werden behandelt: Sklaverei, Stellung des Individuums im Justizverfahren, die Freiheit zu philosophieren oder die Notwendigkeit von Bildung, Religionsfreiheit, Emigrationsfreiheit, Behandlung von Nichtkombattanten und Kriegsgefangenen, Ächtung inhumaner militärischer Mittel. In der Kategorie wirtschaftliche Freiheit stehen an: Freiheit des Eigentums, Behandlung von fremden Eigentum im Kriegsfall, wirtschaftliche Freiheit im engeren Sinn, Ursprünge von Sozialrechten. Die dritte Kategorie der politischen Mitwirkung ist recht knapp, da Vattel nur in rudimentärer Weise für Grundsatzentscheidungen der Nation als Ganzes ein Mitwirkungsrecht erörtere. Kann man aber bei alldem rechtstheoretisch von Menschenrechten sprechen? Good greift dafür auf den Zusammenhang von Rechten und Pflichten in der naturrechtlichen Theorie zurück. Zwar erwähne Vattel die Wolffsche Position, dass Rechte auf Pflichten beruhen, verfolge diese aber in seinen Arbeiten nicht weiter, er entleere vielmehr die Pflichtenlehre ihrer Bedeutung.

Das Fazit des 3. Kapitels lautet, dass sich Vattels Werk "als ergiebige Quelle für mannigfache Versatzstücke individualrechtlicher Gedankenkonstrukte" (145) erweise. Good hebt hervor, dass Vattel sich nicht nur auf die innerstaatsrechtliche Seite konzentriere, sondern sich mit Frieden und Krieg als zwei verschiedenen politischen Aggregatzuständen beschäftige. Er betont besonders die "objektivierte bzw. eigenständige Bedeutung", die den "humanitärrechtlichen Postulaten" im Kriege für Kombattanten wie Nichtkombattanten zukomme (146). An Hand der Kriterien Alexys prüft Good, ob die "offensichtlich freiheitsrechtlichen Ideenansätze" Vattels (146) als Forderungen nach konkreten Menschenrechten angesehen werden könnten. Das Ergebnis ist differenziert, aber eher positiv.

Im 4. Kapitel fragt Good nach der Verbindlichkeit individueller Rechte im Vattelschen System. Dafür ist das Verhältnis Herrscher - Untertan maßgebend. Zunächst erörtert er die Verbindung von Gesellschaftsvertrag und Staatszwecklehre (150ff.). Er hebt dabei die Ausrichtung der Gemeinwohldefinition Vattels auf das Individualwohl hervor. Er prüft deshalb zum zweiten die weiterführende Frage, ob darin die Vorbotin eines "verfassungsmäßigen Rechtsstaates" zu sehen sei (154ff.). Drittens geht er auf die Betonung der Volkssouveränität und des Widerstandsrechts bei Vattel ein (163ff.). Der Abschnitt schließt ab mit einem Exkurs zur humanitären Intervention und zum Völkerstrafrecht (170ff.). Vattel gesteht diese unter ganz bestimmten Voraussetzungen zu, zum Beispiel im Fall einer unerträglichen Tyrannei, das heißt wenn ein Herrscher sich zum ennemi du Genre-humain entwickle. Ist er dann aber, wäre weiter zu fragen, noch iustus hostis, gegen den das humanitäre Völkerrecht gilt? Good scheint der Auffassung zu sein, ohne es aber direkt auszusprechen, dass in der Vattelschen Interventionslehre jedenfalls ein Ursprung des modernen Völkerstrafrechts liegen könnte. Er zieht insgesamt das Fazit, dass Vattel eine zugunsten der individuellen Privatsphäre begrenzte Staatszwecklehre vertrete. Diese schränke das Handeln des Herrschers ein und schaffe Schutzbereiche. Widerstandsrechte im Innern und Interventionsrechte nach Außen stellten Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Spätestens dieses Kapitel leidet darunter, dass Good an keinem Ort den Rechtsbegriff Vattels erörtert.

In der Zusammenfassung verweist Good auf fünf Ergebnisse, die gegenüber der bisherigen Vattelforschung neu seien. Genannt werden zunächst Ansätze einer strukturierten Menschenrechtsidee (177ff.), humanvölkerrechtliche Regulative (180f.) und die Parallelität ihrer Begründungsstrukturen (181f.). Good geht dann der Frage nach Vattels Originalität nach, ohne sie aber abschließend zu klären (182ff.). Er schließt mit der Feststellung, dass sich in Vattels Werk das primäre Ziel zeige, "auf der Grundlage der Ist-Analyse der bestehenden politischen und rechtlichen Verhältnisse in Europa [...] die evolutionäre Reform des monarchischen Herrschaftssystems" durch die Einfügung von "willkürresistenten machtverschränkenden Instituten" herbeizuführen (184).

Goods Perspektive auf das Werk Vattels eröffnet eine neue Dimension. Zwar ist auf die neue Qualität des ius in bello gegenüber der Lehre des Hugo Grotius schon öfter eingegangen worden, aber da es von Good in den Zusammenhang mit einer Menschenrechtslehre bei Vattel gestellt wird, bekommt auch dies eine neue Qualität. Zustimmung verdient Goods Zurückhaltung, in Vattel einen neuen Theoretiker der Menschenrechte zu "entdecken", sondern es bei Ansätzen einer Menschenrechtsidee zu belassen.

Heinhard Steiger