Chase F. Robinson (ed.): The Formation of the Islamic World. Sixth to Eleventh Centuries (= The New Cambridge History of Islam; Vol. 1), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XXXVII + 851 S., ISBN 978-0-521-83823-8, GBP 125,00
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Der erste Band der neuen Cambridge History of Islam, der unter der Ägide von Chase Robinson, Professor für Geschichte an der "City University of New York", herausgegeben wurde, beschreibt den spätantiken Hintergrund, vor dem sich der Islam bzw. erste islamische Herrschaften gebildet hatten und dehnt den Blick bis ins 11. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung aus. Somit erfährt der Leser nicht nur etwas über die politischen Strukturen im Nahen Osten vor der Entstehung des Islams, sondern erhält auch Einblicke in die unterschiedlichen Formen islamischer Herrschaft, die sich von der Iberischen Halbinsel bis Transoxanien bzw. Nord-West-Indien gebildet hatten.
In Kontinuität zur Vorgängerreihe Cambridge History of Islam wird in diesem Band politische Geschichte geschrieben. Mit anderen Worten orientieren sich die Beiträge an Dynastien, stellen die Taten bedeutender Männer (Kalifen, Heerführer oder religiöser Persönlichkeiten) dar und zeigen Entwicklungslinien zum Teil über übliche Zeitabschnitte bzw. Zeitenwenden hinweg auf. So wird die "Entstehung (wörtlich: der Aufstieg) des Islams" bis zum Tod des Kalifen ʿAbd al-Malik (600-705 n. Chr.) ausgedehnt (der historiographischen Tradition des 19. Jahrhundert folgend wird die Umayyadendynastie üblicherweise als eine Einheit betrachtet), während die späte Umayyadenzeit von 705-763 n. Chr. (also über die Dynastiengrenze von 749/50 n. Chr. hinaus) periodisiert wird. Die ʿAbbāsidenzeit wird in drei Perioden eingeteilt: die "goldene" Zeit (763-861 n. Chr.), die Epoche der Regionalisierung (861-945 n. Chr.) und die spätere ʿAbbāsidenzeit (945-1050 n. Chr.). Während sich diese Periodisierung mehr oder weniger genau an Dynastiegrenzen (Ṭūlūniden, Būyiden, Seldschuken) hält, beschreitet der Herausgeber bei der Einteilung der Umayyadenzeit Neuland. So kann man in der Herrschaft ʿAbd al-Maliks eine Epochengrenze sehen, insbesondere wenn man der Argumentation Fred Donners folgt,[1] oder die Aufstände, welche al-Manṣūr nach seinem Herrschaftsantritt niederschlagen musste, als Teil der Erhebungen ansehen, welche die ʿAbbāsiden neben der Beseitigung der Umayyaden vor ihrer endgültigen Machtkonsolidierung niederschlagen mussten. Eine solche Neuperiodisierung ist durchaus plausibel; schon Goitein hat die Bedeutung der Epochengrenze von 750 hinterfragt.[2] Allerdings erscheint es mir zweifelhaft, ob sie historische Linien besser aufzeigen und erklären kann als die "klassische" Periodisierung (600-749/50 n. Chr.). Aufgrund der Fokussierung auf die politische Geschichte hat dieser Band den Nachteil, dass die 17 an diesem Band mitwirkenden Autoren auf kulturelle Fragestellungen, wie etwa theologische Entwicklungen und Auseinandersetzungen, die mittelalterliche, islamische Bildungsgesellschaft oder architektonische Elemente, nur am Rande eingehen.
Dennoch gelingt es dem Herausgeber neben der neuen Periodisierung auch andere innovative Formen der Geschichtsschreibung in diesem Band umzusetzen, welche zwar in anderen Teilbereichen der Geschichtsforschung, etwa in der europäischen Historiographie, schon seit längerem berücksichtigt werden, von Historikern islamischer Geschichte allerdings erst seit wenigen Jahren angewandt werden.
Zu nennen ist in diesem Zusammenhang eine ausgeprägte Regionalgeschichtsschreibung, welche einen besonderen Fokus des hier zu besprechenden Bandes ausmacht (11). Gleichwertig mit der chronologischen Darstellung der politischen Ereignisse im zweiten Block ("Universalism and Imperialism", 171-393) nimmt deshalb der dritte Block ("Regionalism", 395-621) mit etwa 220 Seiten einen breiten Raum in dem Band ein.
Auch die Prämisse, die islamischen Herrschaften der ersten Jahrhunderte, insbesondere deren Entstehung ausgehend von der arabischen Halbinsel, nicht als einen unabhängigen politischen, religiösen und kulturellen Raum zu betrachten, sondern sie in spätantike Prozesse einzuordnen (8), muss als innovativer Ansatz angesehen werden. Dieser aktuelle Forschungstrend, der in Deutschland institutionell am Courant Forschungszentrum "Bildung und Religion (EDRIS)" an der Universität Göttingen und an der Forschungsstelle "Corpus Coranicum" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt wird, ermöglicht eine fundierte Kontextualisierung frühislamischer Entwicklungen in einen spätantiken Rahmen. Er ist damit ein gutes Beispiel für den Fortschritt, den die islamwissenschaftliche Forschung seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe der Cambridge History of Islam gemacht hat. Folglich ist diesem Ansatz im ersten Block des hier zu besprechenden Bandes ("The Late Antique Context", 17-170) mit circa 150 Seiten gebührend Rechnung getragen.
Ein dritter Schwerpunkt hebt diesen Band von seinem Vorgänger und von zahlreichen historiographischen Darstellungen zur Frühzeit des Islams ab. Islamische Geschichte der ersten drei Jahrhunderte (7.-10. Jahrhundert n. Chr.), selbst der paganen vorislamischen Zeit, muss unter Verwendung der islamischen, historiographischen Tradition geschrieben werden. Da diese Tradition neben wenigen materiellen Quellen mehrheitlich aus erzählenden Schriftquellen und nicht aus Dokumenten besteht, sind mit der Auswertung derselben viele, für Historiker nicht untypische, aber dennoch sehr komplexe, Probleme verbunden. Diese breite Quellenproblematik hat die Forschung der letzten Jahrzehnte ins Visier genommen und viele neue Erkenntnisse erzielt. Folglich nimmt sie auch im vierten Block ("The Historiography of Early Islamic History", 623-695) des hier zu besprechenden Bandes mit etwa 80 Seiten, wenngleich den geringsten, so dennoch einen umfangreichen Teil ein (4).
Mit der Fokussierung auf die genannten drei Punkte legt der Herausgeber ein Konzept vor, das die jüngsten Fortschritte in der islamwissenschaftlichen Forschung berücksichtigt und das als gelungen und innovativ zu bezeichnen ist.
Was die einzelnen Beiträge betrifft, so fällt auf, dass dem Herausgeber daran gelegen ist, dass sich die Informationen an den chronologischen Rändern überschneiden. So endet Kapitel 7 mit dem Kalifen al-Mutawakkil und Kapitel 8 setzt mit ihm ein. Noch deutlicher ist diese Überlappung zwischen Kapitel 5 und Kapitel 6 auszumachen. Diese Überschneidungen sind sinnvoll. Erlauben sie doch dem Leser, der nur an einem Kapitel interessiert ist, einen guten Einstieg in die Thematik. Selbst für Leser, welche alle Kapitel der Reihe nach lesen, ist eine solche Doppelung nicht störend, da sich der Stoff so besser einprägt. Insgesamt sind alle Einzelbeiträge dieses Bandes gehaltvoll und informativ, bereiten den dargebotenen Stoff spannend auf und sind sehr gut lesbar. So erfüllt dieser Band der neuen Cambridge History of Islam die wichtigsten Ansprüche, welche an ein gutes Referenzwerk gestellt werden!
Den 17 Einzelbeiträgen vorangestellt ist eine Einleitung von Chase Robinson, in welcher er das Konzept dieses Bandes ausführt. Darin definiert er "islamische Geschichte" als "soziale, religiöse und kulturelle Geschichte, welche die Muslime hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) als Herrscher über eine Welt gemacht haben, welche während fast der gesamten frühen Periode eine mehrheitlich nicht-muslimische geblieben ist" (10). Diese gelungene, wenn auch weite Definition muss allerdings als Grundlage für alle sechs Bände verstanden werden, da einige gesellschaftliche Prozesse, wie etwa demographische Entwicklungen erst in den Bänden III und IV behandelt werden.
Im ersten Kapitel des ersten Blocks ("The Late Antique Context") bietet John Haldon einen konzisen Überblick über Landschaften, Klimata, Wegenetze, Landnutzung, Bevölkerungszahlen, Urbanisierung, wirtschaftliche Märkte und Besteuerung der spätantiken Welt (d.h. des Mittelmeerraums, Mesopotamiens und des iranischen Hochplateaus). In den Kapiteln 2 und 3 beschreiben Mark Whittow sowie Josef Wiesehöfer die spätantiken Entwicklungen im Oströmischen/Byzantinischen und Sassanidischen Reich. Daran schließen sich in Kapitel 4 Michael Leckers Ausführungen zu Nomadentum, religiösen Praktiken und dem Einfluss der beiden Mächte (Ost-)Römisches Reich und Sassanidenreich auf die Arabische Halbinsel in vorislamischer Zeit an. Zwei kurze Ausführungen zu Mekka und Medina schließen die Beschreibung der Welt ab, in welche der Prophet Muḥammad hineingeboren wurde.
Der zweite Block des Buches ("Universalism and Imperialism") beginnt mit dem exzellenten Beitrag von Chase Robinson (Kapitel 5), welcher die Entstehung des Islams als Religion und dessen erste politische Ausformungen (Gemeinwesen/Staat von Medina, 1. Bürgerkrieg, frühe Umayyadenzeit) beschreibt und dabei in den spätantiken Kontext einordnet. Dieser Beitrag reflektiert mit seinen ausgeprägten quellenkritischen Formulierungen den neuesten Forschungsstand und verdient es, herausgehoben zu werden. In Kapitel 6 beschreibt Paul Cobb die Zeitspanne von 705-763 n. Chr. und arbeitet insbesondere Politikfelder der Marwāniden wie die Reichsbildung, Zentralisation, Monotheismus, Urbanisierung und ökonomische Expansion heraus (249). Darüber hinaus ist seine Darstellung der sogenannten "ʿabbāsidischen Revolution" sehr konzise und gut lesbar. Tayeb El-Hibri schildert in Kapitel 7 die wichtigsten historischen Ereignisse der Bagdader Kalifen und deren Umzug in die neue Garnisionsstadt Sāmarrāʾ. Gerade in diesem Kapitel, welches die "goldene" Zeit des Bagdader Kalifats zeigt, kommt die Darstellung von kulturellem Leben (Poesie, Literatur, interreligiöse Disputationen) und blühendem Wissenschaftsbetrieb in der Hauptstadt jedoch bedauerlicherweise zu kurz. Im darauffolgenden Kapitel 8 stellt Michael Bonner die Aufsplitterung des ʿAbbāsidenreiches in mehrere Regionalherrschaften in der 2. Hälfte des 9. bzw. 1. Hälfte des 10. Jahrhundert n. Chr. dar. Dabei geht er sowohl auf die schiʿitischen Herrschaften (Fāṭimiden, Būyiden) als auch auf die teilunabhängigen, sunnitischen Reiche der Ṭūlūniden bzw. Sāmāniden ein. Den Abschluss dieses chronologischen Überblicks bietet Hugh Kennedys Beitrag zum Niedergang der ʿabbāsidischen Dynastie im späten 10. bzw. frühen 11. Jahrhundert n. Chr. (Kapitel 9).
Im dritten Block dieses Bandes ("Regionalism") werden die islamischen Herrschaften vom 7.-11. Jahrhundert n. Chr. nach regionalgeschichtlichen Gesichtspunkten wiedergegeben. So befasst sich Ella Landau-Tasseron mit der arabischen Halbinsel (Kap. 10), Elton Daniel mit dem islamischen Osten, das heißt mit den ehemaligen Provinzen des Sassanidenreiches inklusive Transoxaniens (Kap. 11), Stephen Humphreys mit "Groß-Syrien (Bilād aš-Šām)" (Kap. 12), Michael Brett mit Ägypten (Kap. 13) sowie Eduardo Manzano Moreno mit der iberischen Halbinsel und Nordafrika (Kap. 14). Dass es bei einer solchen Darstellung gelegentlich zu Doppelungen, manchmal auch zu Trippelungen des Stoffes kommt (die Fāṭimiden werden beispielsweise in Kap. 5, Kap. 13 und Kap. 14 behandelt), muss wohl als Konzession an das Gesamtkonzept hingenommen werden.
Der vierte Block des Bandes ("The Historiography of Early Islamic History") beinhaltet einen Beitrag von Fred Donner, in welchem dieser bedeutende, moderne Beiträge zur islamischen Geschichtsschreibung erläutert (Kap. 15). Dabei unterscheidet Donner zwischen den "quellenkritischen" und den "traditionskritischen" Zugängen (630f.), welche bis heute noch praktiziert werden. Daran anschließend gibt Stefan Heidemann einen Überblick über islamische Münzen als sozial- und wirtschaftshistorische Quellen (Kap. 16). Insbesondere die ausführliche Bebilderung der Münzen (zwischen den Seiten 658-659) ist sehr hilfreich, um sich ein präzises Bild dieser Quellengattung zu machen. Den Abschluss des inhaltlichen Teiles bildet Marcus Milwrights Text zur islamischen Archäologie und materiellen Kultur, der beide Phänomene nur sehr kurz anreißt (Kap. 17). Dieses Kapitel hätte ruhig etwas ausführlicher gestaltet werden können, um so das durch die diesen Band dominierenden Schriftquellen entstandene Ungleichgewicht mittels materieller Dokumente etwas auszugleichen.
Eine kurze Zusammenfassung von Chase Robinson, ein Glossar und ein Index runden den Band neben einem sehr anschaulichen Kartentableau (XXVII-XXXVII) und einer ausführlichen Bibliographie ab. Die Bibliographie (699-783) ist, wie bei anderen Ausgaben der "Cambridge History of ..." üblich, in einen Abschnitt zu den wichtigsten Primär- und einen weiteren Abschnitt zu den bedeutendsten Sekundärquellen unterteilt. Als besondere Handreichung für den Leser wird diesen beiden Abschnitten ein kurzer "praktischer Wegweiser weiterführender Literatur" vorangestellt. Dieses Konzept überzeugt, da es einen guten Überblick bietet und eine leichte Handhabung der Bibliographie gewährleistet.
Dass es bei einem solch umfangreichen Werk auch zu falschen Angaben bzw. zu Tippfehlern kommt, lässt sich selbst bei genauester Überprüfung wohl leider nicht vermeiden. Dennoch enthält dieser Band sehr wenige Fehler dieser Art. Die Aufführung an dieser Stelle spiegelt deshalb keine Krittelei an einem sonst formidablen Referenzwerk wider, sondern soll es den Herausgebern ermöglichen, diesen Band in einer späteren Auflage noch besser zu machen.
Zu den inhaltlichen Fehlern, die mir aufgefallen sind, gehören folgende: Einmal ist an einer Stelle fälschlicherweise die Koransure 9:69 angegeben, an der es korrekterweise 9:29 heißen müsste (212). Zwei Mal haben sich Umrechnungsfehler bei der Datierung ergeben. Das 2. bzw. 3. Jahrhundert der Hiǧra müsste mit 8. bzw. 9. (anstatt mit 9. bzw. 10.) Jahrhundert n. Chr. gleichgesetzt werden (466). Entsprechend verhält es sich mit dem 8. Jahrhundert AH, welches fehlerhaft mit dem 13. Jahrhundert anstatt dem 14. Jahrhundert n. Chr. gleichgesetzt wird (587). Zum Schluss zeigt die Abbildung 16.3 nicht wie beschrieben (653) den Avers bzw. den Revers, sondern zwei Mal den Revers der Münze.
Einige, wenige Tippfehler haben sich an folgenden Stellen eingeschlichen: Seite 202, FN 71, wo "Muslime" mit einem Großbuchstaben geschrieben werden müsste; Seite 202, FN 72, wo "History" kursiv gesetzt werden müsste; S. 474, wo viceregent (statt vicegerent) stehen müsste; S. 542, wo die arabische Konjunktion wa- ohne Bindestrich aufgeführt wird; S. 577, wo es iqṭāʿāt heißen müsste; S. 617, FN 63, wo ein a ausgefallen ist und das Wort Musayarat fälschlich mit Musarayat wiedergegeben ist.
Gewöhnungsbedürftig, wenn auch nicht falsch, erscheint mir auch der Satzspiegel der Fußnoten. Gelegentlich, und zwar immer wenn die Fußnoten nicht eine ganze Zeile füllen, werden sie mittig gesetzt, sonst linksbündig. So erscheinen die Fußnoten auf einer Seite beispielsweise linksbündig, auf der gegenüberliegenden Seite jedoch zentriert (beispielsweise 320-321; 490-491). Befindet sich unter den kurzen Fußnoten eine, welche die gesamte Zeile füllt, werden auch die kurzen linksbündig gesetzt (135). Mir erscheint hingegen eine einheitliche linksbündige Setzung der Fußnoten konsistenter und optisch schöner.
Kurz zusammengefasst, ist Chase Robinson als Herausgeber ein erstklassiger Überblick über die islamische Geschichte der ersten fünf Jahrhunderte islamischer Zeitrechnung gelungen. Dieser Band berücksichtigt die neuesten Zugänge und Ergebnisse islamwissenschaftlicher Forschung, weist eine innovative Struktur und Schwerpunktsetzung auf und besticht durch eine praktische Handhabung bzw. eine übersichtliche Darstellung der wichtigsten Ereignisse der frühen und klassischen Zeit des Islams. Es ist damit ein Standardwerk "wie es im Buche steht".
Jens Scheiner