Carlo Scardino: Gestaltung und Funktion der Reden bei Herodot und Thukydides (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 250), Berlin: De Gruyter 2007, XI + 858 S., ISBN 978-3-11-019511-8, EUR 148,00
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Scardino unternimmt es in seiner 2006 in Basel vorgelegten Dissertation, die Reden der beiden ersten griechischen Historiker im Hinblick auf ihre Gestaltung zu untersuchen und daraus Rückschlüsse für das Verhältnis der beiden Werke insgesamt zu ziehen. Nach einem ausführlichen Rückblick auf die bisherige Forschung zu Reden bei antiken Historikern (28 - 59), führt Scardino in einem nicht minder breiten Rückgriff auf die bisherige Forschung in das Werk Herodots ein (60 - 126). Daran schließen sich die eigentlichen Untersuchungen von Reden an, die (hier zunächst nicht überzeugend begründet) auf die Bücher 7 - 9 beschränkt werden. In großer Monotonie werden dabei - durchaus mit Gründlichkeit - die stilistische Gestaltung, die Funktion einzelner Argumente und die rhetorische Ausformung erörtert (126 - 325). In einem Schlussteil werden schließlich einzelne formale und inhaltliche Gesichtspunkte generalisiert, allerdings bleibt deren Auswahl an dieser Stelle unbegründet und erschließt sich erst vom Ende der Arbeit her (326 - 381). Der zweite Teil des Werkes für Thukydides ist schließlich ebenso aufgebaut, wobei die Analyse der einzelnen Reden hier auf die Bücher 6 und 7 beschränkt wird (464 - 648). Nach über 700 Seiten enthüllt der Autor dem Leser dann endlich Hintergrund und Ziel seiner Redenauswahl sowie der Auswahl seiner inhaltlichen Schwerpunkte der Analyse: Hier (702 - 753) bemüht er sich darum, anhand der untersuchten Reden darzulegen, dass Thukydides die Sizilien-Expedition gewissermaßen als Komplementärstück zu Herodots Darstellung der Perserkriege konzipiert habe. Es fügt sich schließlich ein letzter Teil mit dem Titel "Die Reden und die moderne Geschichtsschreibung" an (754 - 790), die zunächst 15 Seiten lang Reden bei Polybios behandelt, den man wohl unter dieser Überschrift nicht erwartet hätte. Schließlich werden auf weiteren 15 Seiten "narrative Modelle und Strukturgeschichte in der Neuzeit" diskutiert, ohne dass die Funktion dieses Kapitels für die Erkenntnisse der gesamten Arbeit deutlich würde.
Das Grundproblem der vorgelegten Arbeit besteht darin, dass sich der Charakter des mit 858 Seiten äußerst umfangreichen Werkes nicht klar bestimmen lässt. In Teilen bietet der Autor einen ausführlichen Rückblick auf die bisherige Herodot- und Thukydides-Forschung, die aber ausgesprochen konventionell ausfällt, wenn sie etwa unter etwas überholt wirkenden Leitfragen wie "Werk und Weltanschauung" entwickelt wird. Dieser Rückblick ist für beide Autoren sicher verdienstvoll, trägt aber nur sehr begrenzt zu neuen Einblicken bei. In den beiden eigentlichen Hauptteilen, in denen die Reden bei beiden Autoren analysiert werden, erhält das Werk bisweilen fast schon den Charakter eines gründlichen und ausführlichen Kommentars, und hier hat es sicherlich in manchen interessanten Details und in der Gründlichkeit der Analyse einiges zu bieten. Die immer gleiche Form der Darbietung mit Gliederung, stilistischer Untersuchung und Analyse der rhetorischen und argumentativen Ausformung stellt dabei einerseits Vergleichbarkeit sicher, mag aber bisweilen auch den Blick für die großen Linien verstellen. Nichtsdestotrotz überzeugen diese Untersuchungen sicherlich durch ihre Detailliertheit und Gründlichkeit. Hatte man bis dahin den Eindruck, ein Werk in den Händen zu haben, dessen Wert sich vor allem als gründlicher Kommentar zu den Reden in den Geschichtswerken bemisst, erfolgt schließlich auf insgesamt nur fünfzig Seiten eine radikale Wende, wenn der Autor in einer kühnen These, gestützt auf seine Detailanalyse der einzelnen Reden, nun nachweisen will, dass bis in die Einzelheiten hinein Thukydides ein exaktes Gegenstück zur herodoteischen Perserkriegsdarstellung liefern will. Auch wenn der Rezensent durchaus geneigt ist, dem Autor in der Grundannahme zu folgen, dass die intertextuellen Bezüge zwischen den beiden Geschichtswerken viel größer sind, als insbesondere die ältere Forschung mit ihrer klaren Abgrenzung dies wahrhaben wollte, ist die hier vorgelegte These zu schwach begründet. Insbesondere überzeugt die Auswahl der Textstellen nicht. Wenn Scardino die These einer solchen Auseinandersetzung des Thukydides mit der herodoteischen Erzählung hätte überzeugend darstellen wollen, so hätte er dies insbesondere auch mit Blick auf das erste Buch des Thukydides tun müssen - und wieso diese Bezüge dann anhand der Reden hergeleitet werden und nicht anhand des übrigen Textcorpus bleibt ebenso ein Rätsel. Über den Schlussteil mit seiner überraschenden Wendung zu Polybios sei der Mantel des Schweigens gelegt.
Insgesamt hätte der Autor sich entscheiden müssen, was seine Arbeit vorrangig sein soll: Ein detaillierter philologischer Kommentar zu wichtigen Reden aus beiden Historikern oder aber eine gründliche Analyse intertextueller Bezüge zwischen beiden Geschichtswerken. Dann hätte die Grundanlage der Arbeit aber anders ausfallen müssen: Entweder hätte er dann alle Reden analysieren oder seine Auswahl schlüssig begründen müssen, oder aber er hätte nicht nur die Reden in den Blick nehmen dürfen, sondern hätte insbesondere die Scharnierfunktion des ersten Buches bei Thukydides mit seinen Rekursen auf herodoteische Themen- und Personenkonstellationen erkennen oder aber seine Textauswahl überzeugend begründen müssen. In der vorliegenden Form aber überzeugt die vorgenommene Auswahl nicht: So mag der Autor in seiner Analyse des Melierdialogs (den er trotz seiner Beschränkung auf die Bücher 6 und 7 dennoch behandelt und auf den Ausgang der Sizilienexpedition vorausdeutendes Rededuell verstanden wissen will) vielleicht manches Richtige beobachtet haben, allerdings lässt sich hier auch zeigen, dass seine Deutungen keinesfalls immer überzeugend oder alternativlos sind: Nur im Kontext seiner Beschränkung auf die Analyse der Bücher 6 und 7 ist es konsequent, den Melierdialog umstandslos vorauszubeziehen auf die Sizilienexpedition. Ebenso interessant mag es aber sein, den Überfall auf Melos mitten im Frieden auf das im dritten Buch ausführlich dargestellte Rededuell der Thebaner und Plataier während des Archidamischen Krieges zu beziehen, das eine ganz ähnliche machtpolitische Konstellation thematisiert. Dabei allerdings käme man zu deutlich anderen Ergebnissen, die weniger athenozentrisch ausfallen würden. Nicht minder interessant wäre gewesen, den Dialog im Hinblick auf die hier zum Tragen kommenden Argumentationsfiguren auch im Kontext der Sophistik zu verorten, was aber auch nicht erfolgt. So bleibt diese wie andere Redeninterpretationen sehr konventionell. Für das unkonventionelle Ziel der Arbeit, nämlich eine detaillierte Parallelität der Redengestaltung bei Herodot und Thukydides nachzuweisen, sind diese Analysen eine kaum ausreichende Grundlage.
Alles in allem handelt es sich bei der vorgelegten Arbeit um eine in der Detailforschung bisweilen ergiebige, in der Zusammenfassung bisheriger Forschungsmeinungen interessante, mit Blick auf die eigenen Ergebnisse jedoch letztlich nicht überzeugende Arbeit, deren Lesbarkeit auch durch einen hypertrophen Anmerkungsapparat nicht verbessert wird.
Michael Jung