Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts. Eine deutsche Unternehmerdynastie, München: C.H.Beck 2011, 1184 S., 64 Abb., 3 Karten, ISBN 978-3-406-62251-9, EUR 39,95
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Der wohlgenährte ältere Herr mit dem Parteiabzeichen, der auf dem Buchumschlag recht optimistisch von seinem Schreibtisch in die Zukunft blickt, hatte dazu im Sommer 1941 noch allen Anlass. Günther Quandts Familienkonzern stand auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Ausdehnung, und sein Gründer hatte noch einiges vor. Nach dem "Schweigen der Quandts" über ihre NS-Vergangenheit, das ein Dokumentarfilm vor fünf Jahren effektvoll skandalisierte [1], strebt Joachim Scholtyseck nun eine möglichst umfassend dokumentierte Versachlichung an. Der Titel ist insofern missverständlich, als der "Aufstieg" der Unternehmerfamilie, dem der Wirtschaftsjournalist Rüdiger Jungbluth bereits 2002 eine kompetente, aber weitgehend auf publizistischen Quellen beruhende Studie widmete [2], nicht mit Günther Quandts Tod im Jahre 1954 endete, mit dem die quellenfundierte Darstellung Scholtysecks abbricht. Die Studie verfolgt im Wesentlichen die Geschichte der Familie Quandt und ihrer Unternehmen in der NS-Zeit inklusive einer ausführlichen Vor- und einer knapperen Nachgeschichte.
Die Fragestellung der von den Nachkommen finanzierten, aber offenkundig in wissenschaftlicher Unabhängigkeit verfassten Darstellung kreist vor allem um Handlungsspielräume und Verantwortung eines Unternehmers (sowie seiner führenden Manager und des älteren Sohnes Herbert Quandt) unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur. Differenziert nach den zwei industriellen Grundpfeilern der Unternehmensgruppe, der Accumulatorenfabrik AG (AFA, bekannter unter dem späteren Namen Varta) und der Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG (DWM), arbeitet Scholtyseck zunächst den Aufstieg Günther Quandts vom mittelständischen Textilfabrikanten zum Großindustriellen heraus, der nach Erfahrungen in der Wirtschaftsorganisation des Ersten Weltkriegs als risikobereiter "Börsenspekulant" (81) maßgebliche Anteile an der AFA und den DWM erwarb, bald aber selbst strategische Entscheidungen traf.
Dass Günther Quandt 1931 seine zweite Ehefrau Magda an einen gewissen Joseph Goebbels verlor und sich mit diesem wegen des Sorgerechts für den Sohn Harald anlegte, schien ihn nach der "Machtergreifung" nicht gerade zum bevorzugten Profiteur der NS-Wirtschaft zu prädestinieren. Die neue Rechtsunsicherheit, die Quandt 1933 in sechswöchiger Untersuchungshaft wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen persönlich erlebte, ging in diesem Fall jedoch nicht von der Regimespitze aus, und sie hielt ihn nicht davon ab, die neuen Rahmenbedingungen für das Wachstum seiner Unternehmen zu nutzen. AFA und DWM sowie ihre Tochterunterunternehmen waren wichtige Rüstungslieferanten, deren Wachstum in den entsprechenden Produktionsbereichen konsequent vorangetrieben wurde. Die Quandt-Unternehmen expandierten seit 1937 zudem durch "Arisierungen", sie griffen während des Zweiten Weltkriegs auf fremdes Eigentum in den besetzten Gebiete zu, und sie setzten über 50.000 Zwangsarbeiter ein. Quandt kam mit einem Jahr Internierung und einer Entnazifizierung als "Mitläufer" glimpflich davon, der größte Teil seines Konzerns schnell wieder auf die Beine.
Die Leistung Scholtysecks und seines Rechercheteams ist zweifellos beeindruckend: Basierend auf Forschungen in mehr als 40 Archiven, trägt das in vergleichsweise kurzer Zeit entstandene Buch eine Fülle bislang unbekannter oder nur verstreut zugänglicher Informationen über die Familie Quandt und ihre Unternehmen zusammen. Zu den Verdiensten des Projekts gehört, dass die Auftragsforscher nicht nur freien Zugang zum Familienarchiv erhielten, sondern auch die Übergabe der benutzten Akten an das Hessische Wirtschaftsarchiv ermöglichten. Kaum ein Aspekt, der in den Diskussionen über die Unternehmensgeschichte der NS-Zeit in den letzten 15 Jahren eine Rolle spielte, bleibt völlig ausgeblendet (die Ausnahme bilden die nur beiläufig erwähnten Verhandlungen über Wiedergutmachung für "Arisierungen").
Dass die Zusammenführung der Befunde bisweilen unbefriedigend bleibt, ist indes zum Teil gerade dem Bemühen geschuldet, nichts eventuell Wichtiges auszulassen. Die technischen Einzelheiten der Prignitzer Tuchproduktion im 19. Jahrhundert etwa muss man nicht kennen, um den Unternehmer Günther Quandt zu verstehen. Dessen "Netzwerk" in der NS-Zeit wird ausführlich anhand der Gästeliste zu seinem 60. Geburtstag rekonstruiert, obwohl über einige konkrete Beziehungen "so gut wie nichts bekannt" ist (285). Den weitgreifenden allgemeinhistorischen Einführungen einiger Kapitel schließlich fehlen mitunter klare Bezüge zur Quandt-Geschichte. Regelmäßige chronologische Vor- oder Rückgriffe in den größtenteils sachthematisch angelegten bzw. nach Firmen gegliederten Kapiteln und die Entscheidung, auf möglichst wenige Details zu verzichten, ergeben am Ende eher ein (zwangsläufig immer noch lückenhaftes) Mosaik.
Zu einem weiteren Teil leitet sich die Unschärfe wohl von einer eigentümlich blassen Hauptperson ab, die auch als Unternehmer nicht so recht greifbar werden will. Charakterisierungen wie die, Günther Quandt habe in der Weimarer Republik eine "flexible Geschäftsstrategie [verfolgt], die weder auf ein Produkt, eine Branche oder einen Beteiligungsumfang festgelegt war, jedoch eines garantieren sollte: die Rendite" (158), verweisen letztlich doch nur auf den ökonomischen Opportunismus eines kühlen Rechners. Dasselbe gilt für die Feststellung, Quandt habe sich stets "mit seiner schnellen Auffassungsgabe mit den jeweiligen politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen zu arrangieren" gewusst (849). Als persönliche "Handschrift" (840) eines Unternehmers ohne politische oder kulturelle Leidenschaften bleibt am Ende die Technik der Machtausübung über den Aufsichtsrat und delegierte Vertraute, die so ungewöhnlich auch nicht war.
Mangelnde Skepsis gegenüber Quandts Selbststilisierungen kann man Scholtyseck sicher nicht vorwerfen, aber aus dem Bemühen um abgewogene Beurteilung resultiert bisweilen eine gewisse Unentschlossenheit: So bezeichnet er das Verhalten seines Protagonisten in der NS-Zeit klar als "aktives Mitmachen" (764), verweist aber zugleich auf Systemzwänge der Zwangsarbeiterbeschäftigung. In der Verallgemeinerung sei es einerseits "vermessen und geradezu naiv, von Geschäftsleuten ein anderes Verhalten zu erwarten, als jenes, das andere Deutsche in den Jahren von 1933 bis 1945 an den Tag gelegt haben"; andererseits habe "man" sich in dieser Zeit "auch anders verhalten" können (851) - nur geht dabei wiederum unter, dass dies insbesondere für einflussreiche Unternehmer und ihr jeweiliges, eben nicht einfach durch den NS-Staat vorgeschriebenes Wachstumskalkül galt.
Die unternehmenshistorischen Verdienste dieser grundsoliden Studie schmälern diese Einwände freilich nicht. Und letztlich ist es nicht Joachim Scholtyseck vorzuwerfen, sondern Ergebnis eines weit fortgeschrittenen Forschungsstands, dass der dargelegte Zusammenhang von betriebswirtschaftlicher Rationalität und moralischer Indifferenz im 'Dritten Reich' inzwischen fast selbstverständlich erscheint.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Kritik von Ralf Stremmel: Zeitgeschichte im Fernsehen. Die preisgekrönte Dokumentation "Das Schweigen der Quandts" als fragwürdiges Paradigma, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), 455-481.
[2] Rüdiger Jungbluth: Die Quandts. Ihr leiser Aufstieg zur mächtigsten Wirtschaftsdynastie Deutschlands, Frankfurt a.M. 2002.
Ralf Ahrens