Christoph Lundgreen: Regelkonflikte in der römischen Republik. Geltung und Gewichtung von Normen in politischen Entscheidungsprozessen (= Historia. Einzelschriften; Heft 221), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 375 S., ISBN 978-3-515-09901-1, EUR 68,00
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Die zu besprechende Monographie ist die "leicht überarbeitete Version" (11) der Dissertation von Christoph Lundgreen, die im Jahre 2009 in einem "co-tutèlle-Verfahren" (11) bei Martin Jehne in Dresden und Jean-Louis Ferrary in Paris (EPHE-Sorbonne) eingereicht wurde. Der Verfasser setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zur weiteren Erhellung der "politischen Kultur der römischen Republik" (25) zu leisten, indem er mittels eines theoriegeleiteten Ansatzes (29) die "Normen und Regeln im Konflikt" (14) untersucht und dabei "(das) Recht als zusätzliche Analysekategorie" (25) zu den bislang erfassten Kategorien Ritual, Symbol und Kommunikation in den Mittelpunkt seiner Untersuchung rückt.
Neben dem Hauptteil (29-301) umfasst Lundgreens Studie in der Einleitung eine Übersicht zur Fragestellung (13-15), zum Forschungsstand (15-20) und zum Aufbau der Arbeit (21-25). Sie endet mit Zusammenfassungen in deutscher (302f.), französischer (303) und englischer Sprache (304). Der Anhang besteht aus einer tabellarischen Übersicht der behandelten Konfliktfälle (309-319) und einem bis ins Jahr der Drucklegung aktualisierten Literaturverzeichnis.
Der Hauptteil ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Teil ("Was sind Regelkonflikte?", 29-50) macht den Leser mit "Regel-Theorien" (29) aus dem Bereich der Rechts- (Robert Alexy, Herbert L. A. Hart, Roberto M. Unger) und Sozialwissenschaften (Jean Piaget, John R. Searle, Heinrich Popitz) bekannt (29), die seiner Untersuchung zugrunde liegen. Er verwendet diese "Regel-Theorien", um für die folgende Analyse die Begriffe 'Regel' und 'Prinzip' schärfer zu konturieren (42-49), als es bislang in der Forschung üblich war, und um durch die "theoriegeleitete Interpretation" (29) neue Facetten der Quellendeutung zu erschließen. Lundgreen betont die Relevanz von Regeln als Handlungsanleitungen (31f.) ebenso wie als soziale Konstruktionen (32f.) und weist auf die Schaffung von gesellschaftlichem Konsens durch die Tradierung von Werten und Normen hin (33-36). Neben dieser "soziale[n] Geltung von Normen" (38) bezieht er sich auf die "juristische Geltung" (38) als die Grundnorm im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand (38-42). Im zweiten Teil ("Regelkonflikte in Rom: Vier Fallklassen", 51-253), dem Herzstück seiner Arbeit, stellt Lundgreen vier große Konfliktfelder in der "Karriere eines römischen Magistraten" (21) vor: Wahlen (53-120), "Provinzvergabe/Auslosung (121-136), Sakralrecht (137-177) und Triumphvergabe (178-253). Er analysiert alle relevanten Quellen, die Formen von Regelverletzungen in diesen Konfliktfeldern überliefert haben, anhand eines chronologischen Durchgangs und einer sich anschließenden systematischen Untersuchung, die die "Kriterien-bezogenen [="materiellen" 21 A. 21] Normen" (21) und die "Institutionen-bezogenen [="prozeduralen" 21 A. 21] Normen" (21) voneinander trennt und als flexible Prinzipien auf der einen Seite und feste Regeln auf der anderen Seite definiert (vgl. 257-259). Die Fälle erstrecken sich von 495 v. Chr. bis 22 n. Chr. (309-319), wobei Lundgreen insbesondere den Zeitraum von 200 bis 180 v. Chr. mit einer Vielzahl an überlieferten Regelkonflikten als eine Phase des Wandels ausmacht (293f.). Der dritte Teil seiner Untersuchung ("Normen in Rom", 257-301) bietet eine "systematische Interpretation" (24) seiner vorangegangenen Analyse. Er konturiert die Rollen der Volksversammlung, des Senats und der Magistratur samt Volkstribunat in den behandelten Konfliktfällen (259f.), wobei er dem Senat den Primat bei der Regelauslegung zuweist und die Volksversammlung die "Meta-Zuständigkeit" behält (258). Die Magistratur, insbesondere das Volkstribunat, erhält ihre Relevanz durch ihre "negative powers" (259), d. h. die Möglichkeit der Beschlussverhinderung (272f.). Laut Lundgreen wurden die meisten Regelkonflikte nicht durch die Hierarchisierung der Normen gelöst, sondern durch eine "Abwägung zwischen Normen" (259). Daraus entwickelt sich eine staatsrechtliche Beiordnung der unterschiedlichen Spielräume von Magistratur, Senat und Volksversammlung (262-267) und auch des flexiblen Rückgriffs auf den mos maiorum im Rahmen der exempla-Argumentation (273-277). Die an die Regelkonflikte gekoppelte argumentative Auseinandersetzung führt in Lundgreens Ausdeutung zur Stützung der These von "Rom als Konsenssystem" (277-285), wobei er dieses 'Konsenssystem' als einen "strukturelle[n] Verzicht auf die konkrete Durchsetzung prinzipiell unbegrenzten Rechts" (284 A. 806) definiert. Für die beobachtete Ballung der überlieferten Konfliktfälle im Zeitraum von 200 bis 180 v. Chr. (286-294) hat er eine überzeugende "ein-Wort-Antwort" (290): Cannae. Hier schließt sich seine rechtshistorische Analyse der Normtradierung und deren konstatiertem Bruch nahtlos an moderne Forschungsergebnisse an, die die politische Umwälzung im 2. Jh. v. Chr. (auch) mit der physischen Auslöschung großer Teile der römischen Oberschicht im Krieg gegen Hannibal erklären (290-294). Für die Zeit ab 180 v. Chr. zeigt seine Analyse der Regelkonflikte eine fortschreitende Normverhärtung, die anfänglich stabilisierend durch die "Positivierung tradierter Normen" (295), aber letztlich zerstörend auf das römische Konsenssystem wirkt: "Dass Normverhärtung als Reaktion auf Regelkonflikte nicht nur eine Lösung war, sondern Teil des Problems wurde, dürfte deutlich geworden sein." (301)
Um es vorweg zu nehmen: Meines Erachtens ist Lundgreens Dissertation eine der wichtigsten Studien zur politischen Kultur der römischen Republik, die in den letzten zwanzig Jahren erschienen sind. Sie ist höchst innovativ in ihrem Ansatz, ohne mit der Theorielast die Quellen zu überschwemmen, sie ist schlüssig in ihrer Interpretation der Konfliktfälle und in der weiterführenden Analyse der historischen Zusammenhänge und sie sorgt - fast nebenbei - für die Renaissance der manchmal als antiquiert angesehenen rechtshistorischen Betrachtung des römischen institutionellen Gefüges. Sehr rezipientenfreundlich ist der klar strukturierte und leicht nachvollziehbare Gang der Untersuchung, der angenehm unprätentiöse Schreibstil, der gerade dadurch seinen wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird und die für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema äußerst hilfreichen Tabelle im Anhang.
Es ist bemerkenswert, wie Lundgreen es trotz seines inhaltlich als auch chronologisch weitgesteckten Untersuchungsfeldes schafft, seine Deutung so zu fokussieren, dass der Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die bislang gesicherten Ergebnisse der althistorischen Forschung zum republikanischen Rom immer sichtbar bleibt. Die herangezogene Forschungsliteratur umfasst alle relevanten Studien zum Thema, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, was bei der schieren Masse an Publikationen in den letzten 50 Jahren (Christian Meiers Res Publica Amissa von 1966 als 'Wasserscheide') auch gar nicht möglich und empfehlenswert wäre. Ein weiterer Pluspunkt der Arbeit ist der eindeutige Umgang mit dem Quellenmaterial: Infolge der Konzentration auf den theoriegeleiteten Ansatz der Analyse können Diskussionen zur möglichen Authentizität der Fälle, vor allem in den historisch schlecht belegten Zeiten der frühen und mittleren Republik, entfallen, ohne als Manko der Interpretation angesehen zu werden: Lundgreen konstatiert zu diesem Problemfeld überzeugend, "dass ... die Rückprojektion der Annalistik es doch wahrscheinlich macht, in den Fällen der Frühzeit spätere Normen erkennen zu können." (22) Weiterführende Diskussionen dazu finden sich ebenso im reichen Fußnotenmaterial wie auch intensive Auseinandersetzungen mit der Forschungsliteratur.
Man darf den Verfasser zu dieser gelungenen Studie beglückwünschen, die nicht nur ein exemplum virtutis althistorischer Forschung ist, sondern auch den unschätzbaren Vorteil besitzt, Impulsgeber für weitere wichtige Untersuchungen zu werden. So lässt sich sicherlich im Rahmen der von Lundgreen vorgestellten theoretischen Überlegungen auch die Gattung der exempla im historiographischen, forensischen und politischen Umfeld neu beleuchten (vgl. die knappen Ausführungen 273-277) oder auch die Zeit nach den sullanischen Proskriptionen und der darauffolgenden Neuordnung des Senats stärker konturieren. Nicht zuletzt kann auch die Forschung zum römischen Volkstribunat neue Denkanstöße erhalten, weil die Überlieferung insbesondere diesem Amt die "negative powers" (259) schon fast als Strukturelement beifügt (vgl Cic. leg. 3,19-27).
Iris Samotta