Hermann Graml: Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik. Hybris und Augenmaß im Auswärtigen Amt, München: Oldenbourg 2012, 200 S., ISBN 978-3-486-70945-2, EUR 19,80
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In der Vorbemerkung zu seiner bescheiden Essay genannten, tatsächlich aber quellenfundierten knappen und rein aufs Politische beschränkten Biographie über Bernhard von Bülow, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in den Jahren 1930-1936, bezieht Graml klar Position zum jüngsten Aufreger (wobei die Aufgeregtheit wohl eher außerhalb der Historikerzunft herrschte): Das Amt war seiner Meinung nach spätestens mit Kriegsbeginn zur "Relaisstation" (7) degeneriert, die lediglich noch Übermittlungsdienste leistete. Eine eigene Politik fand nicht mehr statt. Von daher, so sein Ansatz, seien die bisher wenig berücksichtigten Jahre viel interessanter, in denen das Amt noch selbst Außenpolitik (mit-)gestaltete, also genau die Jahre, in denen Bülow als Staatssekretär an dieser Außenpolitik entscheidend mitwirkte.
Durchaus grundlegend ist dabei die Frage, der Graml nachgehen will: Ist Bülow "vielleicht die Personifizierung der Vergeblichkeit, im Deutschland der Zwischenkriegszeit national-konservative Außenpolitik verfolgen zu wollen?" (12) Sie verweist nämlich auf eine überwölbende Frage, die bisher nicht ausreichend beantwortet ist: Welche Perspektive hatten denn die Eliten aus dem national-konservativen Lager überhaupt, ihre mit Hitlers Plänen nur vordergründig teilidentischen Vorstellungen umzusetzen, und woran sind sie letztlich alle gescheitert? Denn ein vielfaches Scheitern kann Graml auch für Bülow konstatieren, und das nicht erst zu Zeiten seiner Staatssekretärstätigkeit.
Aus uraltem Adel stammend und aus bedeutender Familientradition heraus (sein Onkel war der Reichskanzler gleichen Namens unter Wilhelm II.) begann Bernhard von Bülow nach dem Jura-Studium 1912 die diplomatische Laufbahn, die ihn 1916 ins Amt selbst führte, wo er bald zur Kritik an der Politik der OHL und damit der Struktur deutscher Militär- und Außenpolitik überhaupt fand - eine Kritik, die sich später wiederfinden sollte, dass man nämlich Militärs und militärischen Überlegungen nicht die Außenpolitik überlassen dürfe. Als deutsches Delegationsmitglied nahm er von den Pariser Friedensverhandlungen geschockt und desillusioniert die Erkenntnis mit, auch nach dem Krieg herrsche nicht eine "neue Diplomatie"; deswegen müsse auch Deutschland nach dem von ihm konstatierten Muster der Sieger weiterhin Machtpolitik betreiben, und das bedeute konkret: Revisionspolitik um fast jeden Preis. Aus Protest gegen die Unterzeichung des Versailler Vertrags trat er vorübergehend aus dem diplomatischen Dienst aus. Nach erfolglosen Versuchen, eine Organisation zu schaffen, die sich der Revision des Versailler Vertrags widmen sollte, verlegte er sich darauf, ein Buch über den Völkerbund zu schreiben, das diesen als Schöpfung der Pariser Friedensverträge vernichtend kritisierte.
Nach der Ruhrbesetzung Anfang 1923 sah man im Auswärtigen Amt die Notwendigkeit, ein kompetentes Völkerbundsreferat aufzubauen, und so wurde Bülow wieder ins Amt und als Leiter dieses Referats berufen. Zunächst arbeitete er dafür, den aus seiner Sicht vorzeitigen deutschen Völkerbundsbeitritt zu verhindern; schließlich nach der außenpolitischen Wende von 1924 bemühte er sich, zumindest die Bedingungen für einen Beitritt durchzusetzen; neben der Forderung nach einem ständigen Ratssitz bedeutete das für ihn insbesondere, den nach seiner Vorstellung für jede Revision unverzichtbaren Draht nach Moskau durch einen deutschen Beitritt nicht zu durchtrennen. Beide Bedingungen trug auch Stresemann mit, so dass sie sich in Locarno durchsetzen ließen und der deutsche Beitritt zum Völkerbund im September 1926 tatsächlich zustande kam. Bald schon erging sich Bülow in Plänen zu aus seiner Sicht guten Möglichkeiten, nun aktivere Revisionspolitik zu betreiben. Gelegentlich verließ ihn dabei auch der Realitätssinn für das aktuell Machbare, und auf jeden Fall hatte er andere Vorstellungen von Tempo und Methoden dieser Revisionspolitik als die Führung des Amtes unter Stresemann und Staatssekretär Schubert.
Stresemanns Tod 1929 und der Beginn der Präsidialkabinette 1930 brachten ihn seinem Wunsch nach aktiverer Revisionspolitik näher, auch weil er nun auf den Staatssekretärsposten gelangte und so die operative Politik selbst mitbestimmen konnte. Aber mit der Verantwortung wuchs auch sein Dilemma: Gegenüber dem Drängen der Politiker war er nun eher auf die Beibehaltung des Pariser Wohlwollens aus, weil er zwischenzeitlich eingesehen hatte, dass jegliche Revision auf absehbare Zeit nur mit französischer Unterstützung denkbar sein würde; gleichzeitig formulierte er jedoch in Bezug auf die Ostgrenze revisionistische Konzepte, die zu diesem Zeitpunkt offenbar unrealistisch waren, und spielte das Spiel der Forderung nach "Gleichberechtigung" mit, das die Politik für die Abrüstungsverhandlungen beim Völkerbund ausgegeben hatte. Auch am Desaster des deutsch-österreichischen Zollunions-Projekts von 1931 wirkte er entscheidend mit und verstörte so erneut und nachhaltig die Nachbarn Deutschlands. Doch selbst sein persönliches Scheitern beim Versuch, nun die territoriale Revision, die hinter dem Zollunions-Projekt stand, tatsächlich in Angriff zu nehmen, führte offenbar nicht zur Selbsterkenntnis Bülows, dass territoriale Revision des Versailler Vertrags unter den gegebenen Umständen nicht durchführbar war.
Bei der "Machtergreifung" teilte Bülow die Illusion so vieler: Er hoffte, die Außenpolitik von nationalsozialistischen Einflüssen freihalten zu können. Anfangs gelangen ihm auch Scheinerfolge: Er konnte das Eindringen von Parteipersonalpolitik in das Amt vermeintlich bremsen, und ein von ihm verfasstes Memorandum über eine Revisionspolitik mit langem Atem, das er dem von Hitler den Reichswehrgenerälen am 3. Februar 1933 entwickelten brachialen Programm entgegensetzte, erfuhr im Kabinett keinen Widerspruch. Allerdings versagte er und versagte das gesamte Amt, als bereits im Frühjahr 1933 die ersten antijüdischen Gewaltakte und Gesetze ergingen - der Protest dagegen blieb aus, und man suchte allenfalls nach Wegen, die Verstimmung des Auslands zu dämpfen. Dies und die Tätigkeit von Amateurdiplomaten wie Rosenberg, Ribbentrop und Papen führten zwar zu Unmut in der Behörde, aber eben nie zu lautem Protest. So ging der "amtlichen" Außenpolitik Bereich um Bereich verloren, und auch wenn gelegentlich versucht wurde, die "nichtamtliche" Außenpolitik zu konterkarieren, machte sich doch zunehmend Resignation breit, auch bei Bülow.
Entscheidend für die vollständige Desillusionierung über die eigenen Möglichkeiten wurden für Bülow sodann drei Fragen. Zum einen diejenige der Aufrüstung: Hier wurde schnell ersichtlich, dass Hitler nicht nur "Gleichberechtigung" wollte, sondern eine Armee und dort vor allem eine Luftwaffe, die auf eine in großem Stil expansionistische und weit über Revision hinausgehende Kriegspolitik zielte. Zum anderen handelte es sich um das damit verwandte Problem der Beziehungen zur Sowjetunion: Allen revisionistischen Politikern der Weimarer Republik war die Spezialbeziehung zu Moskau unverzichtbar erschienen, um auf lange Sicht einen Partner für die Revision zu haben; aber von Hitler und den Nationalsozialisten mit ihrer ganz anderen ideologischen und außenpolitischen Agenda wurde diese Spezialbeziehung - in den Augen des Amtes mutwillig - geopfert und durch den taktisch motivierten deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom Januar 1934 ersetzt, der wiederum den sowjetisch-französischen Freundschaftsvertrag von 1935 zur Folge hatte. Und schließlich bedeutete die Remilitarisierung des Rheinlands 1936 die Kündigung der Verträge von Locarno, deren großen Vorteil Bülow nun - ganz anders als zu deren Entstehungszeit - sah, weil sie Deutschland vor der aus seiner Sicht drohenden Isolation geschützt hatten.
Sein früher Tod im Sommer 1936 erledigte die Frage, wie Bülow weiter agiert hätte: ob er zurückgetreten oder entlassen worden wäre, ob er sich in der Folge oppositionellen Kreisen etwa um Ulrich von Hassell angenähert hätte oder ob er eben doch weiter die seinen eigenen Vorstellungen konträre Außenpolitik des Regimes, trotz offenbarer Machtlosigkeit, mitexekutiert hätte. Hier bleiben auch Graml letztlich nur Fragen und Spekulationen: Ob man "sein Land nicht im Stich [lässt], weil es eine schlechte Regierung hat", wie Bülow einmal formulierte, mag seine persönliche Überzeugung treffen. Weil es sich aber nicht nur um eine schlechte, sondern um eine verbrecherische Regierung handelte, deren ganz große Verbrechen 1936 natürlich noch nicht bekannt, aber - etwa an der Aufrüstung ablesbar - in Teilen durchaus zu ahnen waren, bleibt auch gegenüber einem persönlich wohl integren Beamten wie Bülow nur die Erkenntnis: Er hat wie so viele seiner nationalkonservativen Zeitgenossen - offenbar ungewollt - seinen Teil zur Stabilisierung dieses Regimes beigetragen. Warum er und viele andere diesen Part spielten, kann letztlich auch Graml nicht bündig beantworten - so es denn überhaupt eine generalisierbare Antwort gibt.
Wolfgang Elz