Uwe Schaper (Hg.): Leo Rosenthal. Ein Chronist in der Weimarer Republik. Fotografien 1926-1933, 2. Aufl., München: Schirmer / Mosel 2011, 160 S., 123 s/w-Abb., ISBN 978-3-8296-0564-9, EUR 29,80
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Senek Rosenblum: Der Junge im Schrank. Eine Kindheit im Krieg. Unter Mitarbeit von Monika Köpfer, Gütersloh: Bertelsmann 2009
Leo Rosenthal wurde 1884 als Sohn eines jüdischen Kaufmannes in Riga geboren und starb 1969 in New York. Nach dem Jura-Studium an der Universität Dorpat war er von 1911 bis 1917 als Rechtsanwalt in Moskau tätig. Nach der Februarrevolution wurde Rosenthal Direktor des Taganka-Gefängnisses in Moskau; nach der Oktoberrevolution war er 1918/19 als Pflichtverteidiger an Moskauer Volksgerichten tätig, die Teil des von den Bolschewiki etablierten sowjetischen Gerichtswesens waren. Ab 1920 lebte Rosenthal in Deutschland, wo er als Gerichtsberichterstatter für die sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts arbeitete. 1922 begleitete er als Übersetzer die USPD-Mitglieder Kurt Rosenfeld und Theodor Liebknecht, die im Auftrag der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien den Prozess gegen die Führung der Partei der Sozialrevolutionäre beobachten sollten, nach Moskau. Mitte der 1920er Jahre begann er auch als Bildreporter zu arbeiten. Bei den Gerichtsprozessen, wo das Fotografieren in der Regel nicht erlaubt war, war das eine manchmal geradezu konspirative Angelegenheit. Weil die Kamera oft versteckt werden musste, entstanden zuweilen eigentümliche Perspektiven, flach über eine Tischfläche oder die Abgrenzung der Zuschauerbänke vom Verhandlungsraum hinweg. Rosenthal fotografierte überdies, wie der vorliegende Katalogband dokumentiert, auch Ereignisse und Personen aus der Weimarer Sozialdemokratie, Straßenszenen oder das Leben in einem Heim für jugendliche Obdachlose. 1933 emigrierte er nach einer kurzfristigen "Schutzhaft" im Polizeipräsidium Berlin zunächst zurück nach Lettland, wo er an der Zeitung Europa Ost mitarbeitete, die den Untertitel "Organ der deutschsprachigen Demokratie" trug. Als Karlis Ulmanis im Mai 1934 seine autoritäre Diktatur etablierte, wurde das Blatt verboten, und Rosenthal wanderte weiter nach Paris. Dort war er als Korrespondent für skandinavische und belgische Zeitungen tätig. Beim Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich flüchtete noch vor dem Waffenstillstand nach Südfrankreich. Die Vichy-Republik konnte er von Marseille aus Anfang 1942 noch rechtzeitig verlassen. Über Marokko kam er in die Vereinigten Staaten. Seine Mutter und Geschwister sowie weitere Familienangehörige wurden indes 1941 in Riga Opfer des Holocaust. Nach Tätigkeiten in einer Puppenfabrik und als Gefängnisbibliothekar konnte sich Löwenthal 1945 als freiberuflicher Fotograf bei den Vereinten Nationen etablieren. Am 8. Oktober 1969 starb er in New York. Kurz vor seinem Tod bot Löwenthal dem Berliner Landesarchiv seinen rund 3.000 Negative und Glasplatten umfassenden Fotobestand zum Kauf an, was zunächst an Finanzmangel scheiterte. 1968 wurde er mit der Berliner Landesbildstelle handelseins. Da die meisten Glasnegative allerdings durch einen Transportschaden verloren gingen, kamen nur 1.500 Bilder in Berlin an.
Anlässlich des 40. Todestags Löwenthals präsentierte das Berliner Landesarchiv, in dem das Archiv der Bildstelle aufgegangen ist, aus diesem Bestand die Ausstellung "Leo Rosenthal. Ein Chronist der Weimarer Republik". Der vorliegende Bildband ist der beachtlichen Publikumsresonanz auf diese Ausstellung zu verdanken, denn schon bei der Ausstellungseröffnung, wurde, so Landesarchivsdirektor Schaper im Vorwort, "die Frage nach einem Katalog gestellt" (6). Dieser liegt nunmehr in einer schönen Ausstattung vor, wie man sie von dem renommierten Foto- und Kunstverlag Schirmer/Mosel kennt, und geht bereits in die zweite Auflage. Auf 99 Bildtafeln werden vor allem Gerichtsfotos, aber auch einige zu den anderen genannten Themenbereichen präsentiert, von denen nicht wenige faszinierende Bildzeugnisse der Weimarer Zeit sind. Haltungen, Attitüden, Typen wie die arrogante Freifrau, die - so Rosenthals eigener Bildtext - auch vor Gericht "immer noch Freifrau ist", "der Naturmensch", der aussieht wie John Lennon in kurzen Hosen, sind nicht weniger interessant als die Prominenten wie der damalige Redakteur Ernst Reuter, der kommunistische Verlagsmagnat Willi Münzenberg, Albert Einstein oder Robert Musil, die Rosenthal als Angeklagte, Zeugen oder Prozesszuschauer beobachtet hat. "Die Frau als Richter und Anwalt im Zeugenprozess" war seinerzeit noch etwas Ungewöhnliches, aber auch das hat die Kamera des Reporters dokumentiert. Einziger Mann auf der Szene, bei der außerdem zwei Nonnen zu sehen sind, um deren Angelegenheiten es wohl geht, ist der Gerichtsdiener im Arbeitskittel.
Im Edenpalast-Prozess 1931 stand ein bewaffneter SA-Überfall auf eine Tanzveranstaltung des Arbeiterwandervereins "Falke" im Zentrum. Der damals erst 28 Jahre alte Nebenkläger-Vertreter Hans Litten hatte die Vorladung Adolf Hitlers und des SA-Führers Walter Stennes durchgesetzt, um zu beweisen, dass solche Gewaltakte zur Strategie der NSDAP gehörten, und trieb deren Führer mit seinen Fragen in die Enge. Rosenthal gelang trotz Fotografierverbots eine bemerkenswerte Aufnahme eines lauernd-konzentriert den Gang der Verhandlung verfolgenden Hitler, wie man ihn auf den inflationär verbreiteten, durchstilisierten Bildern des Leibfotografen Hoffmann nicht zu sehen bekommt. [1]
Rosenthal war ein Mann, der genau hinsah; diesen Eindruck vermittelt auch sein 1960 von Jerry Cooke aufgenommenes äußerst lebendig wirkendes Porträt (16). Es ist ein großes Verdienst des Berliner Landesarchivs, dass es an diesen Beobachter einer tragisch endenden Epoche erinnert hat. Dennoch hätte man mehr erwarten können. Denn so eindrucksvoll die Fotos sind, so ist man bei der historischen Einordnung doch recht oberflächlich verfahren. Das betrifft zum einen die Sujets der Fotografien, die zumeist nur sehr knapp oder gar nicht erläutert werden. Worum ging es in dem Prozess, in dem Albert Einstein als Zeuge aussagte? Man erfährt es nicht. Die politischen Implikationen des Sklarek-Prozesses, der von der NSDAP in antisemitischer Manier weidlich ausgeschlachtet wurde, finden keine Erwähnung, ebenso wenig die Tatsache, dass das Verfahren 1933 erneut aufgenommen und der zuvor nur disziplinarisch bestrafte, liberale Berliner Oberbürgermeister Gustav Böß zu neun Monaten Einzelhaft verurteilt wurde. Leo Sklarek, einer der beiden wegen eines Korruptionsskandals zu vier Jahren Haft verurteilten Brüder, wurde 1942 im KZ Sachsenhausen erschossen. Auch das erfährt des Betrachter des Bildbandes nicht. Und wer wissen will, was es denn eigentlich mit der Zeltstadt "Indianerwäldchen" auf sich hat, der die letzte Sektion mit sieben Bildern gewidmet ist, muss zur Lupe greifen und kann aus dem als Abbildung wiedergegebenen, anschaulichen Bericht Rosenthals von 1932 erfahren, dass das Zeltstadtleben vor allem mit der Not der Weltwirtschaftskrise aufblühte und die mehr als 2000 Bewohner zu vierzig Prozent arbeitslos waren.
Der Band enthält drei Textbeiträge, einen Essay von Janos Frecot, eine biografische Skizze Rosenthals von der Archivarin Bianca Welzing-Bräutigam und einen interessanten Abriss über die Geschichte der Gerichtsfotografie von Bernd Weise. In allen wird Bezug auf den berühmten Fotografen Erich Salomon genommen, einem der ersten, notfalls wie auch Rosenthal verdeckt operierenden Bildreporter bei Gerichtsprozessen. Aber wo - der 1944 in Auschwitz ermordete - Salomon "berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken" (so der Titel eines 1931 erschienen Bildbandes) ablichtete, dokumentierte Rosenthal das Leben in einem Berliner Heim für jugendliche Obdachlose. Von hier führt eine klare Linie zur sozialdokumentarischen Fotografie der Weimarer Zeit, etwa dem heute weltberühmten August Sander oder zu Walter Ballhause. [2] Doch davon ist in keinem der Beiträge die Rede. Die politische Persönlichkeit Leo Rosenthal wird nur sehr schwach beleuchtet. Die unterstellte Nähe zu Alexander Kerenskij in der russischen Revolution mag gegeben gewesen sein, auch wenn dieser nicht schon im Februar 1917 die provisorische Regierung leitete, wie es hier irrtümlich heißt (17), sondern zunächst als Justizminister fungierte. Gut möglich, dass Rosenthal an dem durch die Bolschewiki bald beendeten Bemühungen um eine Justizreform mitwirkte. Nach etwaigen politischen Gründen dafür, dass er Sowjetrussland 1919 verlassen musste, wird indes nicht einmal gefragt (18).
Rosenthal war zunächst und auch nachdem er zu fotografieren begonnen hatte, ein schreibender Journalist. Darüber erfährt man nur, dass sich seine Gerichtsberichte im "Vorwärts" nicht ohne weiteres auffinden lassen, weil die Artikel nicht namentlich gezeichnet waren und eine umfangreiche Sammlung, die er zu seiner Schwester nach Riga gesandt hatte, im Zuge des Holocaust verloren gegangen ist. Die wenigen Angaben zu Rosenthals Biografie lassen das Profil eines engagierten Sozialdemokraten erkennen, der in Russland, Deutschland und Lettland für seine Überzeugungen arbeitete und wohl nicht zuletzt deshalb diese Länder verlassen musste. In den Begleittexten wird dieser Grundzug von Rosenthals Persönlichkeit kaum herausgearbeitet. So dominiert letztlich in dem Band ein apolitischer und damit auch ahistorischer Ästhetizismus. Dem entspricht die erste Reaktion auf die Publikation einer Auswahl von Rosenthals Fotos auf der Homepage der Zeit: "Sieht toll aus. Damals waren die Leute noch richtig klasse gekleidet." [3]
Anmerkungen:
[1] Rudolf Herz (Hg.): Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des Führer-Mythos, München 1994. Hans Litten wurde 1933 verhaftet und nahm sich nach fünfjähriger Haft in mehreren KZs am 3. Februar 1938 in Dachau das Leben.
[2] Gabriele Conrath-Scholl / Susanne Lange: "Einen Spiegel der Zeit schaffen". August Sanders "Menschen des 20. Jahrhunderts", in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), H. 2. URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Scholl-Lange-2-2004; Walter Ballhause: Licht und Schatten der dreißiger Jahre. Foto-Dokumente aus dem Alltag, München 1985. [Erstausgabe München Schirmer/Mosel 1981].
[3] http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2011-07/fs-leo-rosenthal/seite-1
Jürgen Zarusky