Ivan Hlaváček / Alexander Patschovsky: Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit (= Vorträge und Forschungen; Bd. 74), Ostfildern: Thorbecke 2011, 488 S., ISBN 978-3-7995-6874-6, EUR 59,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Im Oktober 2007 widmete der Konstanzer Arbeitskreis erstmals eine seiner Reichenau-Tagungen dem mittelalterlichen Böhmen, genauer der rund vierhundertjährigen Přemyslidenzeit. Der Band versammelt acht bei dieser Gelegenheit gehaltene Vorträge, die Einführung in die Tagung durch Initiatoren bzw. Herausgeber, eine kluge Zusammenfassung der Tagungsdiskussion (Christian Lübke) sowie vier weitere, im Kontext der Tagung nur schriftlich ausgearbeitete Beiträge. Anliegen der insgesamt 14 tschechischen, ungarischen, polnischen, österreichischen und deutschen Aufsätze ist es, an einigen exemplarisch ausgewählten Themenfeldern "das Böhmen der Přemyslidenzeit [...] länderübergreifend im internationalen Kontext [...] in ein schärferes und aus größerer Distanz geworfenes Licht" zu stellen (11). Dazu werden 1. das verfassungsgeschichtliche Verhältnis von Herrscher, Hof und Adel, 2. die politische und kulturelle Rolle der Kirche, 3. die machtpolitische Stellung Böhmens im Kreise seiner Nachbarn und 4. die Fremd- und Selbstwahrnehmung Böhmens erörtert.
Im Einzelnen bieten Herwig Wolfram und Gábor Klaniczay zunächst einführende Überblicke, die Böhmen im weiteren (ostmittel)europäischen Kontext verorten. Während Wolfram (nach ähnlichen Beiträgen an anderen Stellen noch einmal) die "ostmitteleuropäischen Reichsbildungen um die erste Jahrtausendwende und ihre gescheiterten Vorläufer" vorstellt, vertritt Klaniczay die (zweifelhafte) These von einer sukzessiven Verschiebung Ostmitteleuropas nach "Westmitteleuropa", wobei er sich vornehmlich an den ungarischen Verhältnissen orientiert und neben der Ausbreitung kirchlicher Strukturen (einschließlich Orden und Heiligenkulten) vor allem auf die sozial-ökonomischen Transformationen des 13. Jahrhunderts bezieht. Es folgen faktenorientierte Überblicke über die politische Entwicklung Böhmens (Josef Žemlička) und Mährens (Zdeněk Mě ř ίnský) bis zum Ende der Přemyslidenzeit, über Böhmens Beziehungen zu und Einflüsse auf das piastische Polen (wobei sich Tomasz Jurek im Wesentlichen auf die Zeit des 13. Jahrhundert beschränkt) sowie über Böhmens Ausgreifen in die österreichischen Länder unter König Přemysl Ottokar (Reinhard Härtel). Marcin R. Pauk schließt sehr instruktive, differenzierte Ausführungen zum böhmischen Adel im 13. Jahrhundert beziehungsweise zum Problem der Herausbildung einer přemyslidischen, nichtdynastischen Elite und Führungsschicht an, während Petr Sommer unter dem etwas schwammigen Titel "Böhmen als Kulturlandschaft" aus archäologischer Perspektive das allmähliche Eindringen des Christentums in die böhmische Gesellschaft (anhand des Wandels der Begräbnissitten, der Verbreitung von Heiligen- und Reliquienkulten, des Baues von Kirchengebäuden und der Ausbreitung einer kirchlichen materiellen Kultur) beschreibt.
Etwas deplatziert wirkt der - freilich interessante - Beitrag von Petr Kubín, der einmal mehr die Aachen-Lütticher Bemühungen Ottos III. um die Installierung eines Adalbert-Kultes im Reich diskutiert, aber kaum neue Erkenntnisse im Hinblick auf das přemyslidische Böhmen präsentiert. Marie Bláhova und Norbert Kersken gehen - gleichsam in einem Spiegelreferat - anhand der im Reich bzw. in Böhmen entstandenen narrativen Quellen der Wahrnehmung und Repräsentation des jeweils Anderen in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung nach. Sie bieten damit zwei sehr nützliche quellenkundliche, zugleich auch ereignis- und beziehungsgeschichtliche Überblicke. Ein letzter Beitrag von Václav Bok ist jenen deutschsprachigen Dichtern gewidmet, die seit Mitte der 1230er Jahre am Přemyslidenhof auftauchten und im Kontext des Eindringens westlicher Ritterkultur auch in Böhmen höfischen Minnesang und Sangspruchdichtung verbreiteten.
Wie die anregenden und weiterführenden Überlegungen der Zusammenfassung Lübkes zeigen, hätte der Band gut und gerne noch eine Reihe weiterer Aspekte behandeln können, und vielleicht wäre es wünschenswert gewesen, wenn er weniger die (nicht neuen) Fakten der Politik- und Christianisierungsgeschichte ausgebreitet als vielmehr - wie vorbildlich in Pauks Beitrag geschehen - die sozial- und strukturgeschichtlichen Fragen in den Vordergrund gerückt hätte. Das schmälert freilich die Bedeutung des Sammelbandes in keiner Weise, bietet er doch einen mehr als willkommenen deutschsprachigen Zugang zur neuesten (mehrheitlich tschechischen, teils polnischen) Forschung über ein wichtiges mittelalterliches Herrschaftsgebilde, das - wie Ivan Hlaváček zurecht betont - "integraler Teil eines Geflechts überregionaler Beziehungen auf allen Ebenen der Politik, Gesellschaft und Kultur" gewesen ist (14).
Eduard Mühle