Rezension über:

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C.H.Beck 2011, 523 S., 36 Kt., ISBN 978-3-406-62184-0, EUR 29,95
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Rezension von:
Jörg Ganzenmüller
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Ganzenmüller: Rezension von: Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München: C.H.Beck 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/20310.html


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Timothy Snyder: Bloodlands

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Der Großteil der Opfer der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Herrschaft kam aus Polen, dem Baltikum, der Ukraine, Weißrussland und dem westlichen Russland. Diese Region erfuhr die zwei Jahrzehnte zwischen 1928 und 1948 als eine Zeit extremer Gewalt. Timothy Snyder rückt die zahlreichen Orte deutscher und sowjetischer Massenverbrechen, von denen hierzulande allzu viele unbekannt sind, in den Mittelpunkt seines neuen Buches und weckt damit ein Bewusstsein für die spezifische Gewalterfahrung des östlichen Europas im 20. Jahrhundert. Dies gelingt nicht zuletzt dadurch, dass er den Orten des Geschehens einen gemeinsamen und eindringlichen Namen gibt: die "Bloodlands".

Timothy Snyder schlägt einen weiten Bogen. Er schildert die sowjetische Hungersnot in der Ukraine, die "Entkulakisierung" im Zuge der Zwangskollektivierung, den "Großen Terror" der Jahre 1936 bis 1938, die deutsche und die sowjetische Besatzungsherrschaft in Polen, die deutsche Vernichtungspolitik in der Sowjetunion, den Holocaust, Flucht und Vertreibung bei Kriegsende und schließlich die spätstalinistische Kampagne gegen die sowjetischen Juden. Er gibt bei der Schilderung der Verbrechen der Opferperspektive breiten Raum und es gelingt ihm, dem Leser die unterschiedlichen Gewalterfahrungen auf eindrückliche Art und Weise näher zu bringen. Es sind die Opfergeschichten, denen Timothy Snyder zu ihrem Recht verhelfen möchte: die des hungernden Jungen in der Ukraine im Jahr 1933, des bei Katyń erschossenen polnischen Offiziers, des im belagerten Leningrad verhungerten Mädchens. Und es ist die Möglichkeit, sich mit den Opfern zu solidarisieren und auch zu identifizieren, die das Buch zu einem bewegenden Leseerlebnis macht und seinen Erfolg erklärt.

"Bloodlands" verfolgt allerdings noch ein zweites Ziel: die Überwindung der nationalen Vereinnahmung der Opfer. Die Nationalhistoriographien in Polen, in den baltischen Staaten, in der Ukraine und auch in Weißrussland deuten ihre Gewalterfahrung bis heute in der Regel national: Die Hungersnot 1932/33 in der Ukraine wird häufig als Völkermord an den Ukrainern beschrieben, Katyń und der Warschauer Aufstand als Versuch, die polnischen Eliten und damit das ganze polnische Volk auszurotten, und die sowjetische Besetzung des Baltikums als versuchter Genozid an den Litauern, Letten oder Esten. Ein vergleichender Blick auf die Gewalterfahrung der anderen Opfer, selbst der unmittelbaren Nachbarn, oder gar der Versuch, die Verbrechen miteinander in Beziehung zu setzen, geschieht in den national verengten Geschichtsdarstellungen nur sehr selten und ist häufig auch gar nicht gewollt. Timothy Snyder beschreibt diese Tendenz wie folgt: "Die Geschichte der Bloodlands wurde bewahrt, indem man die Vergangenheit (...) in nationale Teile aufteilte und diese Teile getrennt voneinander hielt." (20). Ein solcher national verengter Blick stehe einem Verständnis der Geschehnisse im Wege, und es ist deshalb ein zentrales Anliegen des Buches, diese nationalen Sichtweisen zu überwinden. Auch dieses Anliegen soll durch die Konstruktion der "Bloodlands" als einem Raum jenseits nationaler Territorien gelingen.

Die einseitige Perspektive der etablierten nationalen Narrative rührt allerdings nicht allein daher, dass sie die Erfahrungen von stalinistischer und nationalsozialistischer Gewalt in ihre jeweilige Nationalgeschichte einzubetten versuchen. Da es den Historikern der Region zumeist auch darum geht, das Leiden der Opfer im Gedächtnis zu behalten, besteht ein zweites Wesenselement in einer konsequenten Opferperspektive. Hier treffen sich die nationalen Meistererzählungen mit Timothy Snyders Ziel, die Erzählungen der Opfer zu ihrem Recht kommen zu lassen. Da sich Snyder jedoch von den verengten nationalen Narrativen lösen möchte, versucht er eine supranationale Geschichte der Opfer zu erzählen, eine Geschichte der Menschen, die in den "Bloodlands" lebten. Doch auch die supranationale Perspektive tendiert zu einer klaren Täter-Opfer-Dichotomie, die kaum Platz für komplexere Beziehungsgeschichten lässt. Beispiele von polnischer Beteiligung an der Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger oder Formen von Kooperation mit den deutschen Besatzern kommen in dem Buch deshalb kaum vor. Darüber hinaus befördert die Opferperspektive eine Darstellung, welche die Gewalt beschreibt, jedoch nicht erklärt. Denn aus der Perspektive der Menschen zogen die Wellen der Gewalt ja tatsächlich häufig unvermittelt und unverschuldet wie ein Naturereignis über sie hinweg. Eine ganz ähnliche Perspektive findet sich in "Bloodlands". Die Täter kommen als Akteure in den "Bloodlands" zwar prominent vor, doch werden deren Taten nicht erklärt, sondern vor allem beschrieben.

Inwieweit gelingt es jedoch, die nationalen Narrative zu überwinden und eine supranationale Perspektive einzunehmen? Ein solches Unterfangen ist schon allein deshalb schwierig, da die Täter Menschen entsprechend nationaler Kategorien zu Opfern stigmatisierten. Gerade im Hinblick auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik lässt sich eine nationale Sichtweise von der Opferperspektive kaum ablösen, und es ist gut, dass Timothy Snyder dies auch gar nicht versucht: Der Holocaust war eine jüdische Erfahrung, die Verbrechen der deutschen Besatzer gegen die Polen eine polnische Erfahrung. Dies lässt sich nicht in einer gemeinsamen supranationalen Perspektive auflösen, sondern nur vergleichend gegenüberstellen. Schwieriger ist hingegen der Fall bei den stalinistischen Verbrechen, denn hier wurden die Opfer nicht allein entsprechend nationaler Kategorien stigmatisiert. Die Bolschewiki ermordeten die ukrainischen Bauern im Zuge der "Entkulakisierung" nicht deshalb, weil sie Ukrainer waren, sondern weil man sie als "Kulaken" brandmarkte und ihnen die Schuld am Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Produktion im Zuge der Zwangskollektivierung gab. Die stalinistischen Feindbilder hatten zweifellos auch nationale Komponenten, doch anders als die deutschen Feindbilder waren sie nicht primär oder gar ausschließlich national. Hier erscheint eine supranationale Opferperspektive durchaus weiterführend, um die nationalen Deutungen der stalinistischen Gewalt zu überwinden. Und Snyder weist auch wiederholt und dezidiert darauf hin, dass sich die "Entkulakisierung" gegen die Bauern richtete, die sowjetische Hungersnot auch in Russland und in Kasachstan tobte und im Prinzip jeder Opfer im "Großen Terror" werden konnte. Doch bei der Schilderung der Ereignisse erhalten die Opfer dann doch häufig eine nationale Zuschreibung: der ukrainische Bauer hungerte 1932/33, die Polen werden im "Großen Terror" vom NKVD erschossen und die weißrussischen Partisanen kämpften im Wald gegen die deutschen Besatzer. Am Ende überwindet "Bloodlands" die nationale Perspektive nicht, sondern addiert sie zu einer Summe nationaler Narrative.

"Bloodlands" ist zweifellos ein wichtiges Buch. Anders als die Totalitarismustheorie versucht es nicht, die nationalsozialistische und die stalinistische Herrschaft auf einen Nenner zu bringen, sondern schildert die Gewalterfahrung einer Region mit beiden Diktaturen. In diesem Zugriff auf das Thema liegen zugleich die große Stärke und eine nicht unwesentliche Schwäche des Buches. Denn anstatt nach den Ursachen staatlicher Massenverbrechen im 20. Jahrhundert zu fragen, nimmt es die Perspektive der Opfer ein, welche die Gewalt zumeist als willkürlich und sinnlos erlebt haben. Insofern lernt man bei Timothy Snyder viel über die Zerstörung von Leben und Lebenswelten der nationalsozialistischen und stalinistischen Diktatur im östlichen Europa, weniger allerdings über die Genese der Gewalt aus der deutschen und sowjetischen Gesellschaft.

Jörg Ganzenmüller