Rezension über:

Leslie Kurke: Aesopic Conversations. Popular Tradition, Cultural Dialogue, and the Invention of Greek Prose (= Martin Classical Lectures), Princeton / Oxford: Princeton University Press 2011, XXIII + 495 S., ISBN 978-0-691-14458-0, GBP 20,95
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Rezension von:
Markus Asper
Institut für Klassische Philologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Markus Asper: Rezension von: Leslie Kurke: Aesopic Conversations. Popular Tradition, Cultural Dialogue, and the Invention of Greek Prose, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/20421.html


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Leslie Kurke: Aesopic Conversations

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'Äsop' ist als Name vielen geläufig, spielt aber in der Forschung, speziell zur Prosa des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., keine große Rolle. Dasselbe gilt für die mit seinem Namen verbundene Gattung der Fabel und ihre Interaktion mit der kanonischen Literatur. [1] Leslie Kurke versucht, diese Marginalität des Äsopischen zu revidieren (49). Mit ihren Aesopic Conversations hat sie ein großartiges Buch vorgelegt, dessen Fülle hier nicht angemessen zu würdigen ist. Kurke verfolgt im Wesentlichen zwei Thesen: (1) Die Figur 'Äsop' und die mit dieser Figur verbundenen Erzählungen dienen, schon im 5. Jahrhundert v.Chr., als Fokus der Kritik 'von unten' an bestehenden Machtstrukturen. (2) Das Äsopische spielt eine wichtige Rolle in der Entstehung mimetischer Prosa bei Sophisten, Sokratikern und bei Herodot.

Kurke geht von einem faszinierenden Text aus, der 'Vita G' des Äsop, die nahe am Schelmenroman operiert und vermutlich in die Kaiserzeit zu datieren ist. Der Sklave Äsop düpiert hier die vermeintlich Überlegenen, angefangen von seinem aufgeblasenen Herrn, dem Philosophen Xanthos, bis hin zu den Bewohnern Delphis. (Dieser Text ist so fundamental für Kurke und die immer wieder zitierten Abschnitte so reizvoll, dass sie eine Komplettübersetzung hätte beigeben sollen.) Für Kurke leistet die Vita G zweierlei: Sie wird im stilistisch-sozialen Sinne als 'low' klassifiziert und ist dann Basis für die Bestimmung des 'Äsopischen'; sie dient ferner als Indiz für mündliche Überlieferungen, die älter seien und bis ins 5. Jahrhundert v.Chr. zurückgingen. So kann dieser literarische Äsop zur Artikulationsform einer Unterschichtensicht auf die Gesellschaft stilisiert werden ("culture hero of the oppressed", 12).

Zu den Schwierigkeiten, sich antiker popular culture zu nähern, schreibt Kurke viel Grundsätzliches und Wissenswertes. Trotzdem bleiben die konkreten Akteure dieser Kritik 'von unten' äußerst vage, im Gegensatz zum rhetorischen Gestus, mit dem Kurke ihren Äsop als Held dieser Zukurzgekommenen feiert. Kurke gewinnt mit ihrem Konzept, anhand des Äsopischen die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen um die kulturelle Autorität der sophia zu zeigen, den bekannten Fakten und Diskussionen oft neue Erkenntnisse ab: Das gilt vor allem für ihre Ausführungen zu Äsop im Milieu der Sieben Weisen und die kompetitiven Auseinandersetzungen um Inhalt und Inszenierung von sophia bis hin zu Aristoteles.

Im Zusammenhang der Gesamtargumentation ist zwar klar, warum Kurke so großen Wert auf die, letztlich wohl nur schwer zu haltende, These legt, diese Kritik sei bereits für das 5. Jahrhundert anzunehmen. M.E. gewinnt die Vita G an Qualität, wenn man sie als Satire auf die Philosophenkultur der Kaiserzeit liest; überhaupt ließe sich die Vita G vermutlich leichter als clevere kaiserzeitliche Rezeption verschiedener kanonischer Texte des 5. Jahrhundert verstehen denn als Ergebnis von alten mündlichen Traditionen.

Der zweite Teil der Conversations behandelt die 'Erfindung der Prosa'. Wie sich schnell zeigt, löst der Untertitel des Buches sein Versprechen nicht ein: Es geht um das Äsopische in der Entwicklung der mimetischen Prosa, vor allem bei Sophisten, Sokratikern und bei Herodot. Kurke erörtert zwar entlang ihrer Leitfrage die Gründe dafür, dass Platon und Herodot sich für Prosa entschieden (zu Recht bricht sie mit der vorherrschenden Fortschrittsnarrative), allerdings beantwortet sie die Frage nach dem Warum nicht. [2] Platons Dialoge und ihre Verwendung der Fabel werden im Kontrast zu den sophistischen Fabeln und zu Xenophon untersucht. Fabel und Äsopisches dienen hier als Index, anhand dessen man die unterschiedlichen Intentionen dieser Autoren und ihre kompetitiven Beziehungen darstellen kann. Nach Kurke schreibt Platon seinem Sokrates äsopische Züge zu, um seine "uniqueness" und seine Sprengkraft zu unterstreichen (251, 325) und reagiert damit auf eine Tendenz der Sophistik, der Fabel einen 'elitären' Ausdruck zu geben. Als emblematisch für diese Beziehungen wird das Symposium gedeutet, wo die einzelnen Fabelrichtungen zueinander in Beziehung gesetzt und gegeneinander ausgespielt werden (321). Zu Recht erscheint die Sophistik bei Kurke auch als literarisches Experimentierfeld. Kurkes Analysen Platons in Hinblick auf die "old Socratic tool-box" (epagoge und elenkhos) und deren Beziehungen zum Äsopischen sollen ein Argument dafür sein, dass ein Baustein des platonischen Sokrates das Äsopische ist. (Diese These wäre überzeugender, wenn man ausschließen könnte, dass der Effekt nur für Leser der Vita G sichtbar ist und im Gegenteil nur darauf beruht, dass der Äsop der Vita G an Sokrates angeglichen ist.) Nach Kurke ermöglichte das Äsopische Platon eine Positionierung seiner Sokratesgestalt sowohl in Abhebung von den Traditionen über die Sieben Weisen sowie der Sophisten als auch in Partizipation an diesen. Zentraler Teil dieser Argumentation ist eine Interpretation des Hippias maior als Auseinandersetzung des Äsopischen mit dem Sophistischen in Sokrates (344-360).

Die letzten beiden Kapitel untersuchen das Äsopische bei Herodot. Ausgehend von der Feststellung, dass wie die Sophisten und Sokratiker auch Herodot in "battles over prose" engagiert sei (366), untersucht Kurke Herodots Manöver zwischen 'hoher' historie und 'niedriger' logopoiia, die sie mit Äsop identifiziert (Herodot II 134 nennt Äsop logopoios). Für Kurke bildet das Äsopische bei Herodot einen Gegenpol zum Homerischen, gleichzeitig wird diese Polarität in verschiedener Weise allegorisch auf Herodots Text projiziert: Demaratos' Beschreibung Griechenlands stehe für die Fabel, die Perserkönige dagegen sprechen homerisch. Kurke ist methodisch am schwächsten dort, wo sie allegorisiert. Dagegen versteht Kurke die Hippokleides-Erzählung m.E. überzeugend als "recasting of Indian beast fable as Greek history" (415), mit der Funktion, die tyrannische Anmaßung des Tyrannen Kleisthenes zu demaskieren. So stellt Kurke sich 'äsopische Kritik von unten' vor; auch hier wäre es, wie im Delphi-Kapitel, besser, als Subjekte der Kritik Konkurrenten der Alkmaioniden zu vermuten, d.h. andere Adelsgeschlechter, die keinesfalls 'unten' zu lokalisieren sind.

Auf das grundsätzliche Verständnis Herodots zielt die Argumentation, wenn das Äsopische als das Indirekte bestimmt wird (427), weil damit die Diskussion um die Intention der Historien in den Blick rückt. So erscheint Herodots Werk auf einmal als ein Projekt, das parallel zum Äsopischen strukturiert ist: implizite, indirekte Beratung der Mächtigen. Die Ausgangsfrage 'Warum Prosa?' wird auch hier nicht beantwortet; überhaupt ist Kurkes Herodot ein seltsam isolierter Autor. Immerhin ist der Leser nach 431 Seiten und 970 Fußnoten bereit, der Frage nach dem Äsopischen bei Herodot neue Facetten abzugewinnen.

Soweit mein dürrer Abriss dieses üppigen Buches. Es gibt aber noch mehr zu sagen. Kurke ist über dieser Arbeit das Äsopische offenbar selbst zur zweiten Natur geworden: Damit meine ich, dass sie den Äsop der Vita G als Rollenmodell des modernen Altertumswissenschaftlers akzeptiert. Wie ein roter Faden zieht sich das Aufbegehren gegen 'die Zustände', zwar nicht der politischen Macht, aber der disziplinären, d.h. der Konventionen in unserem kanon- und autoritätsfixierten Fach Classics, durch alle Kapitel hindurch. Neben der Opposition gegen das Etablierte zeigt sich das 'Äsopische' bei Kurke selbst in einem gewissen Hang zum sprachlichen Barock: Begriffe wie "interimplication" (3, 353, 369) oder "salvific" (311) stehen unvermittelt neben "screwing" und "shitting".

Der Ton dieser Konversationen ist überwiegend kein leichter: Wenn schon nicht die Welt, so tritt Kurke durchaus an, unser Feld zu verbessern (z.B. 262 oben) und meint es dementsprechend ernst. Gelegentlich bricht aber ein durchaus pikareskes Moment durch (Kurkes Mutter etwa wird mit einem tavernen-tauglichen Spruch zitiert [217]; Wilamowitz und West werden in angemessen satirischer Weise gegeneinander ausgespielt [204 f.]; Hippokleides' Verstoß gegen das Decorum provoziert Wortspiele [417 Anm. 45]). Dem Äsop der Vita G hätte es gefallen, dass sich seine so engagierte Exegetin selbst als bricoleuse im Dienst der Subversion versteht und bewährt. Obwohl die Conversations sich im Ganzen gut lesen, stört gelegentlich die als ideologisch empfundene Emphase. So sind z.B. Beziehungen oder Forschungsprobleme immer "complex" (z.B. 265), struggles oder battles immer "deadly serious" (z.B. 264, 270).

Mehr als dieses bisschen Spott wäre allerdings ungerecht. Kurke eröffnet einen außerordentlich weiten Horizont. Zwei performative Stärken der Conversations sind besonders hervorzuheben: die eingehende Interpretation eines literarischen Textes und die zusammenfassende Behandlung großer Fragen auf wenigen Seiten. In beiden Fällen ist die Souveränität Kurkes geradezu einschüchternd. Hinzugefügt sei, dass sich Kurkes Buch auch als eine, gewissermaßen praktische, Einführung lesen ließe, wie man auf dem Hintergrund der Theoriediskussionen der letzten Jahrzehnte die griechische Kultur anders lesen kann als unsere großen Vorgänger es taten (siehe wieder die sunkrisis von West und Wilamowitz). Die emphatisch formulierten 'Axiome' der Interpretation griechischer Kultur und ihrer Artefakte (23-25) verdienen einen festen Platz in unserer Lehre.

Dass Kurkes Thesen in vielen Punkten angreifbar sind, ist nur natürlich, da es starke Thesen sind. Sie verändern jedoch selbst den Blick des Skeptikers auf viele der zentralen Texte der griechischen Literatur. Die Lektüre der Conversations sei deshalb jedem dringend empfohlen, der an diesen Gegenständen ernsthaft interessiert ist.


Anmerkungen:

[1] J. Grethlein: "Die Fabel", in: B. Zimmermann (Hg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München 2011, 321-325.

[2] Zum Hintergrund siehe M. Asper: "Medienwechsel und kultureller Kontext. Die Entstehung der griechischen Sachprosa", in: J. Althoff (Hg.). Philosophie und Dichtung im antiken Griechenland, Stuttgart 2007, 67-102.

Markus Asper