Gerrit Deutschländer: Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden Mittelalter (1450-1550) (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Bd. 6), Berlin: Akademie Verlag 2011, 451 S., mit 13 s/w- und 9 Farbabb., ISBN 978-3-05-004911-3, EUR 99,80
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Der gelehrte Herrscher - Vorlage zur Selbstinszenierung oder ernsthaft verfolgtes Bildungsideal einer ganzen sozialen Gruppe im Spätmittelalter? Dieser Frage versucht Gerrit Deutschländer in seiner Hallenser Dissertation von 2009 nahezukommen, indem er die Erziehung und Ausbildung bei Hofe vornehmlich anhand dreier minutiös rekonstruierter Fallbeispiele beschreibt. Mit dem Themenfeld "Erziehung" sind diverse andere Forschungsfelder verbunden, die jeweils kurz angerissen werden: Die Geschichte der Kindheit, der Zusammenhang zwischen Ausbildung und Herrschaftsausübung, die Bedeutung der höfischen Kultur für den Erhalt adliger Herrschaft. Deutschländers Interesse gilt hier weniger dem - hinreichend bekannten - Bildungsideal des Herrschers als den konkreten Abläufen und Inhalten eines adligen Ausbildungsprogramms. Damit liefert er eine willkommene und notwendige Ergänzung der Forschungslage, indem anstelle des normativ formulierten Ideals "die bewusste erzieherische Einflussnahme und die Auseinandersetzung mit Bildungsanforderungen" (20) in den Blick genommen werden.
Die Einleitung (11-32) umreißt bereits sehr nahe an Fallbeispielen den Widerspruch zwischen humanistischem Bildungsideal und der nahezu sprichwörtlichen Lese- und Schreibfaulheit des Adels, weist aber auf grundlegende Veränderungen in der Zeit zwischen 1450 und 1550 - dem Zeitraum der Untersuchung - hin: Bücherbestände wuchsen sprunghaft an, eigenhändig verfasste Briefe wurden im politischen Alltagsgeschäft wichtiger, Sprachkenntnisse wurden bewusster gepflegt und gefördert.
Das zweite Kapitel (35-64) spricht kurz die relevanten Quellenarten an: höfische Literatur, Fürstenspiegel, Lebensbeschreibungen, Briefe und Sachquellen. Beispielhaft werden die Chancen und Probleme der jeweiligen Quellen aufgezeigt und gleichzeitig ein Einblick in die Breite der Quellenbasis der Arbeit geboten. Die Beschränkung auf die drei gewählten Fallbeispiele wird hier aufgegeben und etwa detailliert erhaltene Nachrichten über die Erziehung der Grafen von Zimmern angeführt. Hier wäre, angesichts der Leistungen der Arbeit gerade im Bereich neu erschlossener Quellengattungen und -bestände, eine etwas deutlichere Betonung dieser Leistung im Gegensatz zur bisherigen Forschung wünschenswert gewesen.
Das dritte Kapitel (67-107) beschreibt die Personen, die mit Erziehung und Bildung befasst sind: Eltern, Hauslehrer und universitäre Lehrer, Ammen und andere Betreuer sowie die Kinder selbst. Hierbei erschließt Deutschländer aus Quellennachrichten, wer eigentlich die zu erziehenden Kinder waren: Herrschersöhne, Edelknaben und oftmals uneheliche Kinder der Herrscher, die jedoch nicht am eigenen Hof erzogen wurden. An dieser Stelle wird ein Problem der gesamten Untersuchung deutlich: Die für Jungen und Mädchen grundlegend unterschiedlichen Bedingungen der höfischen Erziehung klingen zwar immer wieder an, es fehlt aber an einer klaren Aufteilung der einzelnen thematischen Abschnitte, in denen diese Unterschiede konsequent verfolgt beziehungsweise die oft vorhandenen Lücken in der Quellenlage bezüglich der Mädchen benannt würden. "Junge Menschen bei Hofe" erscheinen deshalb hier implizit als männlich, während doch die übrigen Kapitel keinesfalls die Erziehung der weiblichen Kinder völlig vernachlässigen.
Das vierte Kapitel (111-331) ist offensichtlich der eigentliche Hauptteil der Arbeit. Deutschländer beschreibt Fallbeispiele höfischer Erziehung an den Höfen der Anhaltiner, Hohenzollern und Wettiner, aus nur vereinzelten Quellen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, dann aber für die Zeit um 1500 sehr detailreich. Hier treffen wir etwa Margarethe von Anhalt, die für die Erziehung ihrer Söhne und Töchter verantwortlich war und die dafür eine eigens angefertigte Übersetzung eines Texts von Lupold von Bebenburg, die bereits in mehreren anderen Fürstenhäusern zur Anwendung gekommen war, geschenkt bekam. Weitere Beispiele von Fürstinnen als aktiven Erzieherinnen und Ausbilderinnen ihrer Kinder umfassen Zdena von Sachsen, Margarethe von Sachsen und Anna von Brandenburg sowie, als einzigen männlichen Vertreter, Albrecht von Brandenburg. Alle diese Beispiele sind mit großer Sorgfalt und Quellennähe erzählt. Deutschländer gelingt es, anhand von didaktischem Schriftgut, das den Müttern zugeordnet werden kann, und Briefwechseln mit deren Kindern ein lebendiges Bild des Bildungshorizontes der Eltern und ihrer pädagogischen Prinzipien zu zeichnen. In diesem Kapitel werden auch die Verbindungen der Höfe zu den Universitäten beleuchtet und dabei akademische Bildung als durchaus üblicher Bestandteil der Ausbildung der jungen Anhaltiner festgestellt. Aus der Fülle des Materials treten einzelne Aspekte immer wieder hervor: Die Notwendigkeit, die zukünftigen Fürsten an verschiedene Höfe zu schicken, um ihnen je nach Entwicklungsphase Anreize und Herausforderungen zu bieten; wiederkehrende Leseanweisungen zur Aufrechterhaltung erworbener Sprachkenntnisse; Versuche, junge Männer, die durch Trinken und schlechtes Benehmen ihren Untergebenen gegenüber aufgefallen waren, zur Räson zu rufen. Die politischen und religiösen Auseinandersetzungen der 1520er Jahre erscheinen dabei immer wieder als Anlass, die jungen Männer zu eigenständiger Auseinandersetzung mit Glaubensdogmen und polemischen Schriften zu ermutigen.
Die Fülle des bearbeiteten und aufgearbeiteten Materials, vor allem der (meist unedierten) Briefe, als Quellen für die verfolgte Fragestellung ist sicherlich das größte Verdienst der Arbeit; sie erlaubt eine detailreiche, lebendige Darstellung der Abläufe an den untersuchten Höfen, der Protagonistinnen / Protagonisten, Inhalte und Objekte der Erziehungsmaßnahmen. Auch der mitgelieferte Quellenanhang ist hier positiv zu erwähnen. Allerdings entstehen daraus Fallen, die Deutschländer nicht immer zu vermeiden weiß: Bereits die Einleitung listet eher Beispiel nach Beispiel aus den Quellen auf, anstatt konkret Forschungsfragen zu formulieren und Themenbereiche zu strukturieren. Im zweiten Kapitel nehmen die Fallbeispiele dann so überhand, dass die Formulierung der mit der jeweiligen Quellengruppe verbundenen Problematik nurmehr in der Überschrift auftaucht: "Sachquellen: Ein unverstellter Blick?" überschreibt etwa einen Abschnitt, der wiederum eine Vielzahl von Beispielen enthält, nicht aber eine klare Definition dessen, was mit Sachquellen gemeint ist, und ob diese nun einen unverstellten Blick zu liefern vermögen oder nicht. Entsprechend werden viele interessante Punkte in Einleitung und Schluss eher kurz angerissen als konsequent durch die Untersuchung verfolgt, wie die Frage danach, ob Bildung zur reinen Selbstinszenierung vorgespiegelt wurde oder als humanistischer Selbstzweck in die adlige Erziehung Eingang gefunden hatte, oder die Frage, inwieweit Bildung tatsächlich zur Erhaltung der politischen Macht des Adels beitrug. Hier hätten etwas weniger Materialmenge und Beispielfülle, dafür etwas mehr Struktur und die stringentere Verfolgung von Problemstellungen vielleicht geholfen - denn selbst angesichts der hinreichend bekannten Problematik, aus Beispielen Allgemeingültiges abzuleiten, hätten die hier vorbildlich aufbereiteten Fälle doch als Basis für etwas mutigere und weitergehende Schlüsse über die Bedeutung humanistischer Bildung für spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Herrschaft getaugt.
Cordelia Heß