Rezension über:

John A. S. Grenville: The Jews and the Germans of Hamburg. The Destruction of a Civilization 1790-1945, London / New York: Routledge 2012, XIV + 334 S., ISBN 978-0-415-66586-5, GBP 24,99
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Rezension von:
Peter Alter
Fachbereich 1, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Peter Alter: Rezension von: John A. S. Grenville: The Jews and the Germans of Hamburg. The Destruction of a Civilization 1790-1945, London / New York: Routledge 2012, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/22064.html


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John A. S. Grenville: The Jews and the Germans of Hamburg

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Vor dem politischen Einschnitt von 1933 lebten ungefähr 20 000 Menschen jüdischen Glaubens in Deutschlands zweitgrößter Stadt, weitaus weniger als in Berlin. Mehr als die Hälfte von ihnen überlebte den Holocaust. Diese Zahl mag nicht nur den weniger gut informierten Leser von Grenvilles umfassender Studie über die Beziehungen zwischen "Deutschen" und "Juden" in Hamburg seit dem Ende des späten 18. Jahrhunderts überraschen. Grenville führt die außergewöhnliche "Bilanz" der nationalsozialistischen Schreckensjahre auf das vergleichsweise harmonische Zusammenleben von Christen und Juden sowie das nahezu beispiellose Engagement der jüdischen Minderheit für das Gemeinwohl in der Hansestadt zurück. Diejenigen, die dem nationalsozialistischen Vernichtungswahn nicht frühzeitig durch die Emigration entkamen, konnten nach Grenvilles Befund bis zuletzt auf die häufig offene und seit der "Reichskristallnacht" eher verdeckte Unterstützung und Solidarität vieler ihrer Mitbürger vertrauen. Damit war die Situation in Hamburg für Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft vielleicht einzigartig.

Grenville behandelt die frühe Geschichte der Hamburger Juden bis zum Januar 1933 in zwei großen Eingangskapiteln. Den Schwerpunkt seiner Darstellung legt er auf die folgenden zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, in denen auf die denkbar brutalste Weise eine deutsch-jüdische Kultur und eine Jahrzehnte alte deutsch-jüdische Symbiose zerstört wurden. Grenville ist überzeugt, dass beide in dieser Form nie wieder entstehen können. Zwischen ihnen und der Gegenwart, in der sich in der Stadt neues jüdisches Leben entfaltet hat, steht der "Vorhang des Holocaust" (270), und das heißt: eine bis dahin für undenkbar geglaubte Katastrophe.

Das beispiellose Ende einer europäischen Zivilisation analysiert Grenville exemplarisch und eindrücklich anhand eines umfangreichen Quellenmaterials. Ohne die Entwicklung im gesamten 'Dritten Reich' aus dem Blick zu verlieren, beschreibt er die nationalsozialistische Barbarei in Hamburg, das Funktionieren ihrer Organe, das Verhalten der traditionellen Eliten und der neuen lokalen Verantwortlichen des NS-Staates. Wenn es um die führenden Amtsträger der NSDAP und die Gestapo geht, bewahrt sich Grenville die kühle Perspektive des Historikers und die Fähigkeit, bei ihnen auf Unterschiede in der Amtsausübung, auf Nuancen, ja sogar auf gelegentliche Anwandlungen von Mitgefühl und Menschlichkeit vis-à-vis ihrer drangsalierten Mitbürger hinzuweisen. Dessen ungeachtet macht Grenville den teilweise skandalösen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Stadt im Hamburg der Besatzungs- und Nachkriegszeit immer wieder deutlich.

Das Beispiel des Hamburger Gauleiters und späteren Reichsstatthalters in den Jahren 1929 bis Kriegsende ist dafür wohl am bekanntesten und berüchtigtsten. Karl Kaufmann, der Sohn eines Krefelder Wäschereibesitzers, war für die rigorose Verfolgung seiner politischen Gegner, für die bedenkenlose Anwendung von Folter und die Deportation seiner jüdischen Mitbürger verantwortlich. Sein Opportunismus, seine Gewissenlosigkeit und Brutalität waren bei den Zeitgenossen geradezu sprichwörtlich. Mit seiner Duldung blühte die Korruption. Im Mai 1945 wurde Kaufmann von den britischen Militärbehörden verhaftet, aber einem Prozess, in dem er sich für seine Untaten in den vorausgegangenen zwölf Jahren hätte verantworten müssen, entging er. Seinen rechtsextremen politischen Überzeugungen schwor er auch in der deutschen Nachkriegsdemokratie nicht ab. Als Kaufmann1969 starb, da hatte er es in der Bundesrepublik, nicht zuletzt gestützt auf seine alten Beziehungen, zum erfolgreichen Geschäftsmann gebracht. Die sich so gern als ehrbar verstehenden Hanseaten hatten an seinem nur wenige Jahre zurückliegenden Schreckensregiment offenbar keinen Anstoß genommen.

Die unverkennbare Stärke von Grenvilles Untersuchung sind die kluge Verwendung von Augenzeugenberichten und Tagebüchern, die ein ebenso lebendiges wie bedrückendes Bild des nationalsozialistischen Terrors gegen die jüdischen Hamburger, ihrer Ängste und ihres Überlebenskampfes in einem Alltag vermitteln, der mit jedem Tag unerträglicher wurde. Grenville, der drei Jahrzehnte an seiner Studie gearbeitet hat, verweist aber auch auf Beispiele für Zivilcourage und die Hilfsbereitschaft nichtjüdischer Hamburger für Freunde und Nachbarn, meist ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Gefahren für die eigene Existenz, ja das eigene Leben. Eingehend diskutiert Grenville die mutige Haltung und die verzweifelten Aktivitäten der jüdischen Gemeindesprecher um die Rettung ihrer Hamburger Glaubensgenossen. Er würdigt zu Recht die Selbstlosigkeit und die Opferbereitschaft von Männern wie Leo Lippmann, Max Warburg, Joseph Carlebach und vor allem Max Plaut, der im Interesse seiner schrumpfenden Gemeinde die Kontakte zu hochrangigen Gestapo-Leuten Hamburgs pflegte, den Krieg knapp überlebte, für einige Monate nach Palästina ging und 1974 in seiner Heimatstadt starb.

Grenvilles Lokalstudie über Hamburg und das Schicksal der Hamburger Juden in den Jahren der Finsternis in Deutschland ist das Vermächtnis eines Historikers, der 1939 als Elfjähriger mit einem Kindertransport nach England gelangt war. Seine Mutter hat er zuletzt in Berlin bei der Abfahrt des Zuges gesehen. In England konnte Grenville schließlich studieren und später als Professor an der Universität Birmingham lehren. Im März 2011 starb er, wenige Wochen vor dem Erscheinen seines bedeutenden Buches. In ihm erwähnt er sein eigenes Schicksal und das seiner Familie nur einmal kurz am Rande.

Peter Alter